Hayır, teşekkürler*

Hayır, teşekkürler*

turk eye… sagen die Türken zu einer Eurovisionsteilnahme in Wien 2015, wenn der eurovisionaer den Meldungen diverser ESC-Webseiten glauben darf. Also ausgerechnet jene Türkler wollen erneut aussetzen, die lange Jahre auf Teufelkommraus um Anerkennung beim europäischen Schlagerwettbewerb buhlten und inbesondere in den 80ern arg lächerliche Kopien der übelsten Westkaufhausmucke abkommandierten? Erst nach dem Jahrtausendwechsel hatten sie allmählich raus, was Europa wirklich von ihnen hören wollte und wurden in der Folge gar mit dem Sieg 2003 belohnt. Dann plötzlich wollten sie nicht nach Malmö kommen und nun auch nicht nach Wien. Liegt es an Erdogans Politik, Conchitas Gesichtsbehaarung, dem eigenen – 2013 ins Leben gerufenen – recht nationalistisch geprägten Format „Türkvizyon“ oder doch an den wahnwitzigen Regeln der EBU, die besonders laut in Ankara kritisiert wurden? Keiner weiß es genau.

Nehmen wir einfach mal an, das Genfer Regelwerk ist tatsächlich der Stein des osmanischen Anstoßes. Schon häufig hat der eurovisionaer an dieser Stelle seinen Unmut über die seit 2009 wieder auferstandenen Jurys geäußert und steht den Türken daher gerne argumentativ zur Seite. Allein – ihr Groll stößt bei der EBU auf taube Ohren. Diese hält an ihrem erst 2013 noch perfider strukturiertem Wertungsprozedere fest, so lange die Teilnehmerzahl halbwegs stimmt und pausierende Staaten (in diesem Jahr waren es immerhin sieben) eher finanzielle Schwierigkeiten, denn Kritik am System als Entschuldigung für ihr Fernbleiben anführen.

Doch die Nachfahren Atatürks stören sich wohl ebenso an einer anderen heiligen Kuh, die ihrer Meinung nach schnellstens geschlachtet werden sollte. Konkret geht es ihnen um die Big-Five-Regel. Seit 1997 nämlich genießen die angeblich reichsten Einzahler Großbritannien, Frankreich, Spanien und Deutschland und Italien das Privileg, für jedes Finale gesetzt zu sein, während die übrigen Mitbewerber um den Grand Prix entweder ein Jahr lang pausieren oder (ab 2004) ein Semifinale durchlaufen müssen. Ein kurzer Blick ins dicke eurovisionaere Geschichtsbuch erklärt auch warum: 1996 verpasste Deutschland mit dem singenden Frisör Leon die Endrunde, verbannte den Wettbewerb ins 3. Programm und drohte damit, fortan gar nicht mehr mitspielen zu wollen. Das wäre der sichere Tod des ESC gewesen, krähen seitdem unermüdlich die einen. Nicht etwa, weil Europa dann auf Dauer deutsche Sangeskunst vorenthalten worden wäre, sondern einfach, weil der EBU-Etat für die jährlichen Partys nicht mehr gereicht hätte. Total unfair, lamentieren die anderen. Neben der Türkei mokieren das übrigens auch sehr viele Fans. Doch wer hat nun recht?

Schwer zu sagen, denn bis heute will niemand so genau beziffern, wie viele Euros die „Großen Fünf“ überhaupt in die Kollekte stecken und was die übrigen Teilnehmer dann noch drauf legen müssen. Transparenz, nein danke*! Dem unbescholtenen Zuschauer jedenfalls fällt es nicht leicht, sich ausgerechnet Spanien und Italien als zahlungskräftige Geberländer vorzustellen. Aber hoppla… Spanien, das schreit ja geradezu nach einem Fußballvergleich. Denn, wofür die EBU in unserem Beispiel gescholten wird, das praktiziert die UEFA im Rahmen ihrer Fünfjahreswertung mit der Bereitstellung zusätzlicher Startplätze in der Champions League seit Jahren. Und es stört niemanden.

Der Vergleich macht deutlich, die Big-Five-Regel beruht nicht allein darauf, wer die Taschen voller Geld, folglich die dickste Hose besitzt. Auch nicht, wer die fanatischsten Fans hat, denn dann wäre Schweden längst ständiges Mitglied in jenem Elite-Club. Nein, das Regularium definiert sich rein marktwirtschaftlich. Indizien hierfür: Seit neuestem veröffentlicht die EBU voller Stolz stets rekordverdächtige Einschaltquoten, die immer neue potente Sponsoren anlocken sollen und zu deren Erfolg ohne Zweifel die einwohnerstärksten Länder des Kontinents zahlenmäßig beitragen. Zudem stellen sie gewaltige Absatzmärkte nicht nur für Tonträger bzw. Downloadtitel dar, sie generieren im Zeitalter des TV-Merchandisings auch zusätzliche fette Gewinne durch den Verkauf von Fanartikeln jedweder Art. Selbst der Konsument lässt sich eher von einem Sticker „Top-Ten Hit in Germany“ leiten, als von einer müden  „Nummer-1 in Litauen“. Logisch, dass die EBU ihre großen Zugpferde nicht verlieren will und ihnen nahezu jeden Wunsch von den Augen abliest.

Es sind also auch im eurovisionaeren Kosmos die Märkte, die die Richtung bestimmen. Wenn daher die potenteren Sender ein wenig mehr beisteuern als die anderen – prima! Doch deren Obolus ist es eben nicht allein, der das EBU-System absichert. Und da kann die Türkei – trotz 76 Mio. potentieller Zuschauer – so lange meutern, wie sie will, die konservative alte Dame EBU orientiert sich aus Gewohnheit lieber am alten kapitalistischen Europa. Schade nur, dass ihr so die zwischenzeitlich ans Herz gewachsenen türkischen Melodien durch die Lappen gehen.


1 Comment

Ospero

31. August 2014 at 1:59 pm

Ich habe mich zu diesem Thema schon ein paarmal auf anderen Seiten geäußert, aber nur der Vollständigkeit halber:

Ja, die Türken haben möglicherweise Recht. Die Jurys haben sich gerade in den letzten zwei, drei Jahren massiv abqualifiziert – besonders stark faszinierenderweise nach dem Rückzug der Türkei -, und auch die Big-Five-Regel ist bei Lichte betrachtet Unfug (der UEFA-Vergleich hakt ein wenig, weil die zusätzlichen Startplätze in CL und EL nach Leistungskoeffizienten vergeben werden; wäre das beim ESC der Maßstab, hätten mit Blick auf die letzten vier Jahre Russland, Schweden und – mieses Ergebnis 2014 hin oder her – Aserbaidschan längst Spanien, Frankreich oder Großbritannien als gesetzte Finalisten ablösen müssen).

Aber: Es ist fast unmöglich, eine Botschaft für sich allein zu beurteilen; es kommt in der Wahrnehmung immer auch auf den Überbringer an. Und da stellen sich mir – schon seit dem Rückzug der Türkei vor nunmehr eineinhalb Jahren – einige Fragen: Haben die Türken es wirklich erst 2012 begriffen? Das System wurde 2009 fürs Finale und 2010 auch für die Semis eingeführt und hat die Türken erstmals (und zum einzigen Mal) 2011 richtig hart erwischt, als man das Finale dank der Jurys verpasste. Wollte man den ESC 2012 bei den Brüdern in Baku noch mitnehmen, bevor man dann verspätet die Trotzreaktion zeigt?

Und warum beschwert sich ausgerechnet das wohl erfolgreichste ESC-Land der 2000er? Oh mein Gott, die bösen, bösen Jurys haben euch 2011 das Finale verbaut und 2012 von Platz 4 auf Platz 7 runtergestimmt. Ich bin mir sicher, in Tschechien, Andorra, den Niederlanden, Belgien, Lettland oder Bulgarien hat man vollstes Verständnis für solche sicherlich enorm schmerzhaften Probleme. Das ist das ESC-Äquivalent zu First World Problems – während die Niederlande sich achtmal hintereinander schon im Semi verabschieden mussten und Tschechien und Andorra nach 2009 entnervt hinwarfen, bekam die Türkei einen Wutanfall, weil es einmal (!) nicht fürs Finale und zweimal (08 und 12) nicht für die Top 5 gereicht hat. Von einem der anderen genannten Länder kommend hätte man die Beschwerden vielleicht ernster genommen als von dem Land, das bis auf 2011 bei jedem ESC seit 2003 mindestend 90 Punkte bekommen hat und bis auf 2005 (knapp) und 2011 immer in der oberen Hälfte des Scoreboards stand. Ich hatte und habe enorme Schwierigkeiten, die Beschwerden der Türkei – so berechtigt sie auch sein mögen – wirklich ernstzunehmen. Jedes denkbare Regularium für den ESC bevorteilt einige Länder und benachteiligt andere – wie war das noch mit dem Stimmgewicht eines Isländers gegenüber einem Deutschen oder Russen? – und wenn die Türkei nicht damit zurechtkommt, dass das Regularium seit 2009 sie gegenüber vorher, als man dank der stärksten Diaspora aller Teilnehmer einen massiven, auch nicht eben fair zu nennenden Vorteil hatte, benachteiligt (wenn auch nicht allzu stark, immerhin hat es in diesem die Türkei ach so benachteiligenden System zu einem vierten und einem zweiten Platz gereicht), dann ist es das gute Recht von TRT, sich zu verabschieden. Und es ist mein gutes Recht, diese Reaktion kindisch zu finden und (wenn auch mit Bedauern) zu sagen: Sender mit einer derartigen Mentalität muss ich nicht zwingend dabei haben.

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