Monat: November 2015

43

Wie eurovision.tv soeben bestätigte, sind 43 Teilnehmer für den Song Contest 2016 gemeldet. Das ist neben Belgrad 2008 und Düsseldorf 2011 das größte Starterfeld beim europäischen Wettsingen. Grund hierfür sind die überraschenden Zusagen aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Bulgarien. In den Semifinals am 10. und 12. Mai werden sich daher 18 bzw. 19 Länder um den Einzug ins Finale (14. Mai) reißen. Ganz großes Kino, da freut sich das eurovisionaere Herz!

Eine Übersicht über alle nun anstehenden Termine und die bereits gemeldeten Interpreten gibt es in der Rubrik Vorentscheide 2016!

Grafik: eurovisionaer

Kaliopi singt für Mazedonien

Mensch, es gibt Tage, da fühlste dich wie der letzte Loser, der damals bei der Teamauswahl im Schulsport bis zum Schluss auf der Bank sitzen blieb… Während sich Deutschland gerade fragt, ob es überhaupt einen Kandidaten, geschweige denn eine Vorentscheidung an den Start bekommt, ziehen alle anderen gefühlt an uns vorbei.

Soeben wird gemeldet, dass die wunderbare Kaliopi nach 2012 erneut für Mazedonien an den Start gehen darf. Läuft!


Bosnia is back!

Endlich einmal gute Nachrichten abseits des deutschen Vorentscheidungsdilemmas! Bosnien und Herzegowina nimmt definitiv am Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm teil. Das gab der zuständige Sender BHRT heute bekannt, nachdem er den ESC-Fans in den vergangenen Monaten mit seinem mittlerweile üblichen Raus-und-Rein-Spielchen schon fast den letzten Nerv geraubt hatte. Wie bereits in den Vorjahren fehlten dem Staatssender nämlich die finanziellen Mittel, um einen Beitrag zum Song Contest zu entsenden, doch dann kam in diesem Jahr offensichtlich von irgendwoher ein Sponsor vorbei (hoffentlich nicht Ralph Siegel) und nun ist alles geritzt!

Wer sich so generös zeigte und welcher Künstler den ESC nach Sarajewo holen will, soll morgen verkündet werden. Den eurovisionaer freut’s, war doch der Balkanstaat bislang nahezu jedes Jahr ein Garant für ausgezeichnete Einreichungen. Übrigens: Angeblich lag das Manko, an der die ganze Chose erneut hätte scheitern können, bei 25.000 Euro. Vermutlich ist das ungefähr der NDR-Jahresetat für die sprichwörtliche Portokasse…

Update: Zwischenzeitlich wurde bestätigt, dass Deen (In the Disco) mit Dalal Midhat Talakić und der Cellistin Ana Rucner nach Stockholm reisen werden. Der Beitrag soll irgendwann im Januar veröffentlicht werden.

Grafik: eurovisionaer

„… alles sehr unglücklich gelaufen“

so fasst Volker Herres, Programmdirektor der ARD laut Welt am Sonntag das bundesdeutsche ESC-Drama um Xavier Naidoo zusammen:

„Xavier Naidoo hat mehrfach Äußerungen getätigt, die man nicht gutheißen kann und missbilligen muss. Ich hätte es begrüßt, wenn diese Diskussion ARD-intern hätte geführt werden können, bevor mit der Nominierung Fakten geschaffen wurden.“

Hätte, wäre, Fahrradkette. Fakt ist: Der NDR hat innerhalb von zwei Tagen ein mediales Schlamassel à la Grandeur aufs Parkett gelegt, von dem sich alle Beteiligten so schnell nicht erholen werden. Denn nachdem 48 Stunden lang die Sozialen Netzwerke ob der Auswahl Xavier Naidoos explodierten, rüsten seit der Rückrufaktion des NDR am frühen Samstagnachmittag nun die Naidoo-Befürworter verbal auf.

Ganz offensichtlich sind es besorgte Bürger, die jetzt den schändlichen Shitstorm der „Twitter-Hater“ als Ursprung des Dilemmas ausmachen und blitzschnell Vokabeln wie „Schwulenmafia“ bzw. „Gutmenschen“ in die Forentasten hauen. Fehlt eigentlich nur noch der mehrstimmige Abgesang auf die „Lügenpresse“.

Dumm nur, dass sie Ursache und Wirkung verwechseln, wenn sie dem angeblich linken Internet-Mob nun vorwerfen, dieser ignoriere demokratische Prozesse. Also noch einmal von vorne: Zu Beginn war es der Alleingang des NDR, Xavier Naidoo als Resultat einer Hinterzimmerentscheidung zu nominieren, der die ganze Aufregung ins Rollen brachte. Erst danach kam die für viele ESC-Fans unerträgliche Einsicht, dass gerade dieser Sänger sich nicht von rechtsradikalen und homophoben Verstrickungen klar distanzieren mochte. Und das in Zeiten, in denen die abendlichen Spaziergänge mancher Bürger dieses Landes zu einem scheußlichen Ritual geworden sind.

Allerspätestens an dieser Stelle hätte man kurz innehalten und überlegen können, ob wir uns mit dem auserkorenen Kandidaten wirklich einen Gefallen tun. Statt dessen wurde gewitzelt. Brauche ein Künstler eine politisch-korrekte, lupenreine Weste, wenn er doch eh nur drei Minuten trällern solle?

Natürlich braucht es die, denn der ESC ist längst auch ein Politkum, so unerhört das sein mag. Conchitas Bart, die plötzliche Ablehnung Russlands in den vergangenen zwei Jahren, die Diskussion um Baku als Veranstaltungsort sind hierfür nur einige Beispiele der jüngsten Wettbewerbshistorie. In Stockholm wären Naidoos verbale Entgleisungen, kaum aber sein Liedgut Thema der europäischen Presse gewesen – übrigens auch ohne Mitwirkung der hiesigen „Hater“.

Folglich ist es richtig gewesen, die Reißleine zu ziehen. Dass es überhaupt dazu kommen musste, unterstreicht die aus deutscher Sicht beispiellose ESC-Katastrophe. Mit beiden Entscheidungen sorgte der NDR dafür, dass der Song Contest hierzulande mittlerweile endgültig zur Lachnummer verkommen ist.

Da dürfte es wenig helfen, schnell einen anderen ARD-Sender oder gar das ZDF zu beauftragen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Was sich der Norddeutsche Rundfunk – und eben nicht der so genannte Twitter-Mob – da eingebrockt hat, muss er jetzt alleine auslöffeln. Und das könnte schwierig werden, schließlich dürfte der Großteil aller bislang halbwegs interessierten Künstler längst auf dem Baum sein, um in diesem Schmierentheater bloß nicht den Lückenfüller zu geben.

Bliebe als halbwegs vernünftige Lösung nur der komplette Rückzug, um dann – 2017 – mit unbelasteten Verantwortlichen und frischen Konzepten einen Neustart zu wagen. Allein, der EBU wiederum dürfte diese Variante nun gar nicht gefallen, schließlich ist Deutschland der potenteste Nettozahler der Veranstaltung. Fällt sein Beitrag weg, wird es für alle anderen viel teurer und damit für einige unmöglich, überhaupt noch teilzunehmen.

Tja, „unglücklich gelaufen“ ist in diesem Kontext wohl die Untertreibung der Saison.

Grafik. Vince / CC BY-ND 2.0

NDR zieht Xavier Naidoo zurück

Das ging ja schnell. Gerade einmal zwei Tage nach der seitdem nicht nur in Fankreisen kontrovers diskutierten Direktnominierung zieht der NDR seinen Kandidaten Xavier Naidoo schon wieder zurück. Grund: Für die Quote hätte er zwar ein bisschen polarisieren sollen, der zwischenzeitlich aufbrausende Shitstorm war dann aber wohl doch zu viel des Guten. Hierzu Thomas Schreiber, ARD-Unterhaltungskoordinator und Leiter des Programmbereichs Fiktion und Unterhaltung in einem neuerlichen Pressestatement:

„Xavier Naidoo ist ein herausragender Sänger, der nach meiner Überzeugung weder Rassist noch homophob ist. Es war klar, dass er polarisiert, aber die Wucht der Reaktionen hat uns überrascht. Wir haben das falsch eingeschätzt. Der Eurovision Song Contest ist ein fröhliches Event, bei dem die Musik und die Völkerverständigung im Mittelpunkt stehen soll. Dieser Charakter muss unbedingt erhalten bleiben. Die laufenden Diskussionen könnten dem ESC ernsthaft schaden. Aus diesem Grund wird Xavier Naidoo nicht für Deutschland starten. So schnell wie möglich wird entschieden, wie der deutsche Beitrag für den ESC in Stockholm gefunden wird.“

Quelle: presse@ndr.de

Auf diese Idee hätte die norddeutsche Eurovisionsredaktion mit etwas Überlegung auch früher kommen können, denn der Schadensfall ist mittlerweile längst eingetreten. Und fraglich ist ja wohl auch, wer jetzt überhaupt noch Lust hat, nach Stockholm zu fahren. Da wäre nunmehr ein Sabbatjahr vielleicht die bessere Lösung.


#NotInMyName! Xavier Naidoo darf zum ESC

Na, da hat der NDR ja mal wieder ein glückliches Händchen bewiesen! Nach den Pleiten der Vorjahre, die bekanntermaßen in der Null-Punkte-Klatsche von Wien mündeten, schmeißt er nun alle Vorentscheidungskonzepte über Bord und nominiert direkt den ausgewiesenen Homohasser und „Reichsbürger“ Xavier Naidoo als deutschen Vertreter für den Eurovision Song Contest 2016. Dass ausgerechnet dieser Wettbewerb sich in den vergangenen Jahren zum schwulsten und tolerantesten TV-Event Europas entwickelt hat, dürfte sich eigentlich bis in die letzte Wohnstube herumgesprochen haben – nur eben nicht bis zum Norddeutschen Rundfunk.

Doch zum Glück kommt er damit nicht so einfach durch: Gerade einmal wenige Stunden, nachdem die gar nicht so frohe Botschaft ins Land getragen wurde, macht sich in der Öffentlichkeit, sprich den Sozialen Netzwerken, bereits Widerspruch und Häme breit. Und das erstaunlicherweise nicht nur bei den Hardcore-ESC-Fans: an dieser verqueren Entscheidung reibt sich offensichtlich ein großer Teil Deutschlands:

Während der NDR also seine eigene Entscheidung via eurovision.de beklatscht, reißt der Spott im Netz nicht ab, werden erste Online-Petitionen initiiert. Für den bislang handzahmen, nun aber anscheinend auf Krawall gebürsteten ARD-Haussender dürfte damit jedoch ein erstes Ziel erreicht sein, denn eine schrillere Medienaufmerksamkeit wäre aus keinem Werbeetat der Welt zu finanzieren gewesen. Dass der Beitrag des nun hofierten Herrn Naidoo in einer TV-Sendung am 18. Februar kommenden Jahres unter sechs Vorschlägen öffentlich ausgewählt werden darf, wird da zur Randnotiz.

Der eurovisionaer stellt konsterniert fest: Nicht allein, weil ein ausgewiesener Rechtspopulist für Deutschland zu einem gesamteuropäischen Gesangswettbewerb geschickt wird, läuft in dieser Republik grundsätzlich etwas falsch. Aber auch. #NotInMyName

Grafik: eurovisionaer

 


Einmal ist keinmal

Groß war die Überraschung ja nun nicht gerade, als die EBU heute Nacht vermeldete, dass Australien auch am Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm teilnehmen darf. Bereits vor einer Woche hatte EBU-Supervisor Jon Ola Sand bei einem Treffen der Reference Group eher beiläufig die ominöse „41“ als Teilnehmerquote ins Spiel gebracht. Das wiederum sollte die ESC-Fangemeinde in den nachfolgenden Tagen schier um den Verstand bringen, spekulierte sie doch fortan gleichermaßen munter und sehnsüchtig eine Bestätigung Kroatiens, Luxemburgs oder Bosnien-Herzegowinas herbei. Ganz Wagemutige hielten es gar für möglich, dass der Libanon plötzlich Lust am europäischen Wettsingen entwickelt habe (nun ja, er hat ja auch keine anderen Probleme…).

Den Realisten aber war längst klar, dass die angeblich einmalige Einladung der Aussies zum Wiener Wettbewerb 2015 beileibe keine Ausnahme bleiben sollte – jüngstes Indiz: deren Anmeldung zum Juniorvision Song Contest vor einigen Wochen. Und nun? Wie schon Anfang des Jahres tobt ein lauter Aufschrei durch die Sozialen Netzwerke, denn der eurovisionäre Kosmos ist manchmal doch nicht so großherzig wie die echte Welt dieser Tage, wo alle Frankreich, zumindest aber Paris sein wollen. Erneut ist da zu lesen, dass das Land Down Under ganz einfach nicht zu Europa gehöre und deshalb gefälligst auch bei sich da unten singen solle. Alle Gegenargumente, von wegen der gemeinsamen kulturellen Verwurzelung und der abgöttischen Liebe der Australier zum ESC – uns doch egal! Stattdessen schallt der Ruf nach einer kontinentalen Gesangsfestung durchs Netz, damit der Wettbewerb, dem ach so gerne eine grenzenlose Toleranz attestiert wird, auf immer und ewig unter sich bleiben dürfe.

Nun wissen wir, das darf er 2016 gleichfalls nicht. Und vorerst ist das auch gut so, meint der eurovisionaer, denn der fünfte Kontinent ist grundsätzlich eine Bereicherung für einen zuletzt zunehmend inzestuösen ESC, noch dazu nimmt er keinem der Urahnen einen Startplatz weg. Schließlich werden die hingebungsvollen Aussies dieses Mal (anders als noch in Wien) keine Freikarte fürs Finale bekommen, sondern wie (fast) alle anderen erst einmal ein Semi überstehen müssen. Außerdem: Austragen dürften sie im Fall eines Sieges wegen des unvorteilhaften Zeitzonendings auch nicht, sondern müssten sich einen europäischen Ko-Produzenten suchen. Also alles tacko, oder?

Meh, denn Blogger ist trotz der frohen Neuigkeiten ebenfalls im Meckermodus. Ihn nervt das Gehampel der EBU, die auch jetzt wieder behauptet, es sei noch nicht sicher, ob die erneute Teilnahme Australiens eine Ausnahmeregelung oder eben eine langfristige Entscheidung sei (was sie jedoch unter uns ESC-Maniacos gesprochen seit heute zweifelsfrei ist). Abermals wünscht sich der geneigte Fan von seinen Genfer Funktionären nur eins: Konsequenz und Transparenz. Dann wüsste er nämlich auch, was er von diesem Sandschen Zitat halten soll, das wie das Orakel von Delphi anmutet und zeitgleich, nur einige Absätze später per offizieller Pressemitteilung ausgesendet wurde:

„We strongly believe the Eurovision Song Contest has the potential to evolve organically into a truly global event. Australia’s continued participation is an exciting step in that direction.“

Geht es also gar nicht um besagte freundschaftliche und kulturelle Verbundenheit, sondern um Kalkül auf dem Weg zu einer Art Worldvision? Die wiederum im Rahmen einer ESC-Globalisierung die Chance auf bislang ungeahnte neue Vermarktungsplattformen und – in deren Folge – stattliche Gewinne böte? In der Tat wäre dann der Schritt zur Teilnahme Chinas, Japans und der USA ein kleiner. Und der vordergründige Hinweis auf gemeinsame Wurzeln schnell als pure Profitgier entlarvt. Doch naiv, wie der eurovisionaer nun einmal ist, hofft er lieber, dass der umtriebige Ola im stillen Kämmerchen einfach nur fleißig an einem weiteren Wettbewerb bastelt, ohne uns das über die langen Jahre liebgewonnene Spielzeug dann doch auf ewig kaputt zu machen.


Die Türkei ist draußen

Was waren denn nun die Gründe? Die leidige Big-Five-Diskussion, die am vergangenen Sonntag zementierte Entwicklung zum pro-islamischen Polizeistaat oder generell das Image des Song Contests als Förderer der „Verschwulisierung“ (West-)Europas?

Nein, Antworten auf diese Fragen sind vom verantwortlichen Staatssender TRT nicht zu erwarten, denn sie zu geben hieße, dem europäischen Schlagerzirkus Beachtung zu schenken. Und genau das will in der Türkei ganz offensichtlich niemand mehr. Folglich wurde die gestrige Absage an eine Teilnahme in Stockholm nicht etwa über offizielle türkische Kanäle verbreitet, sondern als kurzknappe Mitteilung der EBU veröffentlicht.

Die über Monate kursierenden Gerüchte, die Türkei werde sich im kommenden Jahr erstmals seit 2012 wieder an dem traditionsreichen Gesangswettbewerb beteiligen, entpuppen sich nun als rein folkloristisches Wunschdenken mancher Hardcorefans. Es gab gar keine Signale aus Ankara, geschweige denn eine Meldung mit der Bitte an Genf, auf die provisorische Teilnehmerliste gesetzt zu werden. Wozu auch? Hat man doch mit der erstmals 2013 ausgerichteten Türkvizyon ein eigenes Festival etabliert, wo man sprachlich und ethnisch unter sich bleiben darf.

Verfolgt man die derzeitige politische Entwicklung Europas zurück zum Nationalstaatsdenken, dürfte sich über den türkischen Weg keiner mehr wundern. Da werden an Landesgrenzen Mauern gebaut und Andersartigkeit als Bedrohung empfunden. Aber hat das etwas mit der heilen Eurovisionswelt zu tun?

Ja, denn der Song Contest ist seit jeher eng mit dem gesellschaftlichen Schicksal Europas verbunden, wurden doch hier am Beispiel der zerfallenen Balkanstaaten oder der nachkommunistischen Osterweiterung politische Veränderungen mitgetragen und mehr oder minder erfolgreich in den europäischen Lebensalltag integriert.

Doch mittlerweile erleben wir, dass zunehmend weniger Länder Interesse am kontinentalen Wettsingen haben bzw. die Metamorphose vom braven Schnulzenfestival zum liberalen Multikluti-Event nicht mehr mittragen wollen. Indizien sind die Aufregung am Conchitas Bart oder die Diffamierung der Veranstaltung als peinliche Schwulenparade.

Das nur als eurovisionaere Anmerkung, sollte man dieser Tage das Fehlen des türkischen Ethnoschlagers bedauern.


Mailand oder Madrid? Hauptsache Italien!

Neulich schiebt der eurovisionaer den Silberling mit dem 1990er Jahrgang in den DVD-Player. Das ist so eine Art Methadonprogramm, welches sich während der nachrichtenarmen ESC-Vorsaison als recht probates Mittel erweist, die Symptome des harten Song-Contest-Entzugs ein wenig abzumildern.

Eingefleischte Fans wissen: Trotz ihres Alters erfüllt die Zagreber Ausgabe immer wieder ihre beruhigende Wirkung, bietet sie doch ein für damalige Verhältnisse relativ modernes musikalisches Spektrum. Vorausgesetzt, der Zuschauer skippt die besonders übel aufstoßenden zuckersüß-pathetischen Hymnen, die den Wettbewerb seinerzeit als Folge des wenige Monate zuvor Europa euphorisierenden Mauerfalls überschwemmt hatten. Ähnlich entzückt freut sich der Blogger 25 Jahre später auf der heimischen Couch über ein Wiedersehen mit seinen eurovisionaeren Lieblingen aus Frankreich, Israel und Spanien. Letztere haben schon allein wegen der leidigen Playbackpanne ewige Berühmtheit erlangt und sind bekanntermaßen aus kaum einen ESC-Rückblick mehr wegzudenken.

Der eigentliche Skandal des Song Contests 1990 jedoch wird in allen Retrospektiven brav unterm Deckel gehalten, was gerade heutzutage, wo eifrig über die Intransparenz der EBU gestritten wird, ein wenig nachdenklich stimmt.

Das Voting ist damals am 05. Mai in vollem Gange, als Italien als 19. Jury aufgefordert wird, seine Punkte zu vergeben. Und nach einer kurzen Pause meldet sich der ein wenig schwerfällig in den Redefluss kommende Sprecher der RAI-Jury mit den Worten „Voici les résultats du jury espagnol“.

Helga, unvergessene Gastgeberin des kroatischen Fernsehens, schaut sofort verschreckt zu ihrem Co-Moderator Olivar herüber, der aber überspielt den Lapsus nicht etwa nonchalant, sondern hakt recht ungeschickt nach: „Aber das ist doch die italienische Jury, oder?“ Das Reaktionsvermögen des offensichtlich alkoholisierten Jurysprechers scheint mittlerweile jedoch komplett außer Kraft gesetzt zu sein, er wertet munter weiter, bis schließlich Frank Naef, Offizieller der EBU, ihn auffordert, einfach von vorne zu beginnen. Das tut er prompt und entschuldigt sich lapidar mit einem „technischen Problem“. Was folgt ist eine eigentümliche Wertung, während der der spätere Sieger Italien für seine direkten Konkurrenten Frankreich und Irland keinen einzigen Punkt rausrückt.

Der Vorfall wird danach nie wieder thematisiert. Lediglich in einigen Fanforen (Link zwischenzeitlich entfernt) raufen sich seitdem eurovisionäre Verschörungstheoretiker zusammen, die behaupten, Italien habe für den Contest gar keine Jury abgestellt (was einen nicht sonderlich verwundert, denkt man wiederum an die Organisation des Folgewettbewerbs 1991 in Rom zurück). Infolgedessen habe die EBU gemeinsam mit dem verantwortlichen jugoslawischen Sender JRT mir nichts dir nichts beschlossen, eine Handvoll Zagreber Studenten in einem Nebenraum mit vornehmlich dalmatinischem Rotwein zu bewirten und einfach als italienische Jury auszugeben. Dass diese dann unter steigendem Pegel bald nicht mehr gewusst habe, ob sie nun aus Italien oder Spanien komme – kann passieren.

Eins ist klar: Von der sturen EBU werden wir wohl nie erfahren, was da genau gelaufen ist. Statt dessen können wir von Glück reden, dass der Wettbewerb 1990 nicht so ein enges Rennen war wie noch zwei Jahre zuvor in Dublin. Um allerdings den ESC-Rausch ohne Katerstimmung zu genießen, sollten wir uns besser nicht fragen, wie viele Schaltungen es damals noch in irgendwelche Hinterzimmer der Lisinski-Halle gab.