Wer wird ULFS?
Category : Artikel 2016
Es ist soweit. Heute Abend will der NDR das unsägliche Naidoogate vergessen lassen und schickt daher zehn mehr oder weniger etablierte Künstler in das Rennen um das deutsche Ticket für den Eurovision Song Contest 2016.
Aus Erfahrung klug geworden, verzichten die Organisatoren gänzlich auf irgendeine Jury (über die im Anschluss garantiert eine wild gewordene Horde von Social-Media-Usern hergefallen wäre) und legen das Schicksal der Veranstaltung einzig in die Hände der Zuschauer. Diese dürfen per Telefon, SMS und erstmals auch per App für ihre Favoriten abstimmen. Und das gleich zweimal, denn die drei Erstplatzierten werden erneut in ein Superfinale geschickt, über das dann der endgültige Televotingsieger bestimmt wird. Sollte ausnahmsweise alles glatt gehen (jeder Künstler musste eine Erklärung unterschreiben, bloß keinen Kümmert zu machen) ist der Zauber, durch den die unverwüstliche Barbara Schöneberger geleitet, um 22.15 Uhr vorbei.
Und ob dann tatsächlich das Manga-Sternchen Jamie-Lee als glückliche Gewinnerin fest stehen sollte, wie es ihre aufgeregten Fanboys seit Monaten in die Welt krähen, oder doch die Meat-Loaf-Gedächtnis-Bombastnummer – wir werden am Ende dieser beispiellos peinlichen deutschen Vorentscheidungssaison endlich Gewissheit haben und einen Deckel auf das Drama der vergangenen Monate machen dürfen.
Alex Diehl – Nur ein Lied
… beweist, wie schnell man in den erlauchten Kreis deutscher Vorentscheidungsteilnehmer aufgenommen werden kann. Als spontane Reaktion auf die Terroranschläge in Paris hatte der bayerische Singer-/Songwriter im November letzten Jahres sein Nicole-Gedächtnis-Rührstück „Nur ein Lied“ geschrieben, flugs mit der Handykamera aufgenommen und auf Facebook hochgeladen.
Avantasia – Mystery of a blood red rose
… reklamieren handgemachte Rockmusik für sich, versteigern sich dann aber eher in Bombastklänge, an denen der selige Jim Steinman seine helle Freude hätte. Sänger Tobias Sammet ist der Kopf der erfahrenen Band, die bereits internationale Charterfolge aufweisen kann. Ob das Experiment gelingt, die Rockfraktion mit dem ESC zu versöhnen, wird sich zeigen. Möglicherweise erleben wir lediglich eine moderne Variante von Dschingis Khan.
Ella Endlich – Adrenalin
… war eingefleischten Schlagerfans bislang als studierte Musicalkünstlerin und Interpretin der Titelmelodie des Films „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ bekannt. Nun aber hat sie offensichtlich nachsitzen und pausenlos Helene-Fischer-Hits anhören müssen, denn ihren Beitrag „Adrenalin“ kann sie seitdem nicht mehr von „Atemlos“ unterscheiden. Dem Publikum heute Abend wird es wahrscheinlich ähnlich gehen.
Gregorian – Masters of chant
… wurde aus der NDR-Schublade „Irgendwas mit Verkleidung“ gezogen. Nach den Priestern, Seeleuten, Mittelaltergaucklern und Mongolen werden nun halt Mönche auf die Bühne geschoben. Dem eurovisionaer unbegreiflich, können sie mit diversen Gold- und Platinauszeichnungen gar auf stattliche Erfolge als Coverband bekannter Hits verweisen. Dem Himmel sei dank, dass sie für die heutige Entscheidung keinen weiteren Chartbuster verwursten dürfen, sondern – den ESC-Regeln entsprechend – ein eigenes Chorwerk an den Start bringen müssen.
Jamie-Lee Kriewitz – Ghost
… ward hochgelobt und gewann im Dezember den Wettbewerb „The Voice Of Germany“. Überraschenderweise schaffte sie im Anschluss mit ihrem Siegertitel „Ghost“ nur Platz 11 der heimischen Verkaufscharts und tourt seitdem mit der Voice-Clique durch Deutschland. Das erklärt vielleicht, warum sie für den ESC keinen neuen Song eingereicht hat. Oder fehlt der 17-jährigen Künstlerin vielleicht doch ein längerer Atem?
Joco – Full moon
… sind zwei studierte Schwestern, die vorgeben, Indie-Pop zu machen und gleichsam damit angeben, ihr im vergangenen Jahr erschienenes Debut-Album „Horizon“ in den Abbey Road Studios London aufgenommen zu haben. Das dürfte in der ESC-Welt allerdings nur lahmes Schulterzucken hervorrufen, folglich gilt ihr Titel „Full Moon“ schon im Vorfeld als Aspirant auf den letzten Platz.
Keøma – Protected
… ist ein deutsch-australisches Duo, dessen Debüt-Album ebenfalls soeben erschienen ist. Gitarre, Bass, Synthies und Gesang sind die Grundzutaten ihrer Musik, mit der sie ein weltoffenes und modernes Deutschland repräsentieren wollen. „Protected“ ist wunderschön chillig und folglich für nächtliche Autofahrten hervorragend geeignet, es dürfte jedoch leider im bunten ESC-Angebot hoffnungslos untergehen. Oder?
Laura Pinski – Under the sun we are one
… ist das neue Mäuschen von Ralph Siegel, der erstmals seit 2005 wieder zu einer deutschen Vorentscheidung eingeladen wurde. Das findet der eurovisionaer ganz lieb vom NDR, auch wenn das musikalische Schaffen des Grand-Prix-Urgesteins mittlerweile niemanden mehr vom Hocker haut. So auch das gewohnt hymnisch-sülzige Tralala „Under the sun we are one“, das die Düsseldorferin, die – man glaubt es kaum – angeblich gar schon einmal im Supertalent-Finale stand, heute zum besten geben will.
Luxuslärm – Solange Liebe in mir wohnt
… kommen aus Iserlohn, was die Band, die sich gerne wie Silbermond anhören möchte, verdächtig unhip erscheinen lässt. Doch immerhin haben die Musiker um Sängerin Jini Meyer bereits eine ECHO-Nominierung, die „1LIVE Krone“ sowie den vierten Platz beim Bundesvision Song Contest im Gepäck, da müssen sie sich wohl auch nicht mehr vor dem ESC fürchten. Und selbst wenn es in der Vorentscheidung schief gehen sollte, so wird der exponierte Fernsehauftritt für gehörige Promotion des gerade veröffentlichten neuen Albums sorgen. Danke Universal für so viel Uneigennützigkeit!
Woods of Birnam – Lift me up (from the Underground)
…ist ein Projekt des Schauspielers Christian Friedel (u. a. „Das weiße Band“) und Musikern der Gruppe Polarkreis 18, dem One-Hit-Wonder aus dem Jahr 2008. Ausgerechnet Til Schweiger haben sie ein wenig Bekanntheit zu verdanken, gehörten sie doch zum Soundtrack seines Films „Honig im Kopf“. Auf ewig lässt sich davon aber wohl auch nicht leben und so wagen sich die intellektuellen Softrocker zum deutschen Song Contest. Allerdings – eine Direktnominierung wäre in diesem Fall wohl sinnvoller gewesen, denn für den internationalen ESC durchaus kompatibel, dürften sie entsprechend der Televoting-Gewohnheiten der bundesdeutschen Fernsehzuschauer die erste ULFS-Runde nicht überstehen.