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Eurovisionäre Nachhilfe: 05. Mai 1990

1990Der ESC-Jahrgang 1990, ein Klassiker! Selten zuvor gab es so viele Songs, die meine private Playliste anführten und auch ohne den Contest hätten bestehen können. Selbst heute, fast 25 Jahre später, weiß ich eigentlich gar nicht, wo ich mit meinen Lobeshymnen anfangen soll… Sicher bei Israel und seiner wundervollen Rita, die mich auf Jahre – was sag ich! – Jahrzehnte danach in schönen wie auch gleichermaßen traurigen Momenten begleitete. Die spanischen Azucar Moreno, denen zwar auf ewig diese dumme Playback-Panne anhängt, die aber auch einen Orkan Modernität in den ollen Wettbewerb gebracht hatten. Frankreich, das den Altmeister Gainsbourg ausgegraben und mit ihm ein erneutes Husarenstück abgeliefert hatte. Oder die Türkei, die erstmals in der ESC-Historie die eigene Melancholie erfolgreich in Noten umsetzen konnte. Die liebenswert stelzige Dänin, der traurige Belgier sowie die gastgebenden Jugos, die kurz vor Schluss noch einmal verrückte Sachen machen wollten. Anders als heute war da selten die Skip-Taste im Spiel, wenn ich der (damals noch nicht offiziellen) CD gelauscht habe und einen wahrhaftig eurovisionären Flash verspürte.

il90Der 05. Mai war heiß! Wie gewohnt hatte ich nachmittags Günter Krenzens Pop-Report verfolgt und die Songs des Abends studiert, während ich in besagtem Jahr erstmals so richtig auf ESC-Party machen wollte. Dementsprechend ewig lang war ich damit beschäftigt, möglichst viel Platz in dem winzigen Kühlschrank meiner 3-qm-Küche zu schaffen, um irgendwo Unmengen an Sektflaschen deponieren zu können. Damals war es in, bei Festivitäten dieses Zeugs zu trinken! Heutzutage käme das zwar niemandem mehr in den Sinn, dennoch erinnere ich nostalgische Bilder, frohgelaunt aus einer Art Getränkefeinkosthandel kistenweise angeblich hauseigenes Perlgesöff geschleppt zu haben. Dieses galt es also zu verstauen und zu kühlen, um es den Gästen bestmöglich temperiert anbieten zu können, das Warten auf die abendliche Bescherung nutzte ich folglich recht pragmatisch. Es war eine komische Zeit, Deutschland war den Winter zuvor in etwas wiedervereinigt worden, das ich nie kennengelernt hatte, und jetzt eben zu allem Überfluss noch heiß. Ein Sommer Anfang Mai halt.

e90Gegen 20 Uhr war es dann vollbracht, die Eurovisionsgirlande (prust!!!) hing und die Käse-Lauch-Suppe, die es damals auf jeder zweiten Feier gab, war gekocht. Doch zu einer Zeit, als Eurovisionsparties nahezu unbekannt waren, ließen sich Außenstehende noch beeindrucken und innerhalb einer halben Stunde waren alle vortrefflich angetrunken und in bester Stimmung. Mit dem cremigen Etwas auf dem Löffel verfolgten wir den Siegeszug der Italiener, die sehr hoffnungsfroh die nahende Einheit Europas besangen, was den damals noch ausschließlich wertenden Jurys wahrscheinlich runter gegangen war wie das sprichwörtliche Öl. Toto Cutugno hatte Jahre zuvor bereits in Mitteleuropa durch eine Single namens „L’Italiano“ auf sich aufmerksam gemacht (die schmetterte ich Mitte der Achtziger so manche Nacht mit meinem lieben Freund Herrn B), nun also gewann er den „Grand Prix“ und ein weiteres Jahr später gar sollte er den Song Contest moderieren, was aber besser ein böser Traum geblieben wäre und zu jenem Zeitpunkt – dem ESC-Gott sei Dank! – noch niemanden interessierte.

i90Vielmehr ging es, als das Gesinge gegen Mitternacht gelaufen war, darum, dass unser Partysieger die Gemeinde zumindest teilweise an seiner fetten 45 Deutschmark-Wettprämie (nur er hatte den Toto erahnt…) teilhaben ließ. Ob der vorherrschenden Hitze wurde er einstimmig beauftragt, Eiskrem zu besorgen, was sich in den Jahren danach – wie süß! – zu einem festen Ritual entwickeln sollte. Seine Pappenheimer kennend, kam er dann wenig später unter großem Hallo mit der einst trendigen Langnese-Kreation „Sekt-Cooler“ von der Tanke zurück und gab der Partymeute damit den noch fehlenden letzten, ultimativen Kick. Sternhagelvoll zog sich diese nämlich anschließend auf meinen Miniatur-Balkon zurück, demolierte meinen neuen, heißgeliebten Liegestuhl und ließ die Nacht zum Tag werden. Trotzdem müsste ich jetzt lügen, wenn ich behauptete, dass ich mich von diesem Treiben widerwillig entfernt hätte – kurzum: es war ein wunderbarer Abend!

Toto machte anschließend seinen verdienten Weg in die deutschen Charts, wo die heimischen Vertreter Kovac und Kempers mit ihrer Siegel-Hymne von Beginn an nichts zu suchen hatten. Und ich träumte den Rest des Jahres weiter von der israelischen Rita und so manchem, quatsch – einem speziellen! – Partygast (die Testosterone halt!). Diese Wunschvorstellungen jedoch sollten sich erst zwölf Monate später – rechtzeitig zur nächsten ESC-Sause – endgültig entladen. Aber das ist eine andere Geschichte…

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Eurovisionäre Nachhilfe: 30. April 1988

1988Dem Alter, harmonische Fernsehabende unbedingt auf der elterlichen Couch verbringen zu müssen, lange entwachsen, deutete sich 1988 so etwas wie ein Paradigmenwechsel an, hätte mal ein Wissenschaftler meine eurovisionären Gewohnheiten untersucht. In jenem Jahr wurde die ESC-Party geboren! Nun gut, noch in einem sehr kleinen, überschaubaren studentischen Kreis, jedoch mit ersten Ingredienzien wie z.B. der wandernden Kommentarliste, viel Alkohol und einer Aftershowparty, die bis in die frühen Morgenstunden reichen sollte. Sie alle wurden im Laufe der folgenden Jahre zu elementaren Bestandteilen dieser rituellen Zusammenkünfte, wenngleich die 89-er Ausgabe wegen Liebesschmerz anhaltendem Hangover schon wieder ausfiel und in den Geschichtsbüchern der Nichtigkeiten erst 1990 als das offizielle Geburtsjahr dieser hedonistischen Tradition gelistet wird.

d88Aber bleiben wir beim 30. April 1988. Deutschland hatte sich wenige Wochen zuvor für ein hochnotpeinliches Mutter-Tochter-Gespann entschieden, das unbegreiflicherweise am Finaltag von den schmerzfreien britischen Buchmachern gar auf Rang drei gewettet wurde. „Lied für einen Freund“ war in sträflicher Manier das genaue Gegenteil von einem aktuellen Popsong (die Pet Shop Boys führten gerade mit „Heart“ die BBC-Charts an), schmalzig und schräg mit unerträglichem Hundeblick vorgetragen. Mehrheitlich interessierte das in Europa – aber selbst im eigenen Land – niemanden, also galt es, eigene Favoriten auszumachen. Dem Himmel sei Dank hatten wir ganz weitsichtig auf den Original-Fernsehton, über den die leibhaftige Nicole einen nöligen Kommentar absonderte, verzichtet und das TV-Bild mit der hippen BFBS-Live-Radioübertragung verkoppelt. Das garantierte zwar unter technischen Aspekten betrachtet ein optimales Stereoerlebnis, musikalisch rangierte jedoch vieles, was Europa uns da vorsetzte, auf einem ähnlich unterirdischen Level wie der bereits erwähnte deutsche Beitrag. Natürlich gab es Ausnahmen, immer dann, wenn ausgelutschte Eurovisionssongmuster gebrochen wurden: Irland, das als Vorjahressieger ja nicht mehr gewinnen musste, stellte mit „Take him home“ ein Ballade epischen Ausmaßes vor; Norwegens „For vår jord“ war ähnlich stimmungsvoll, ohne abgestanden sülzig zu wirken.

uk88Damals schwappte übrigens populärkulturell so etwas wie eine erste Ethnowelle durch die Republik. Meine liebe Freundin Fräulein T., die gerade aus für mich unerfindlichen Gründen einen studienfachübergreifenden Kurs „Türkisch am Krankenbett“ besucht hatte, favorisierte daher den Beitrag „Sufi“ aus Ankara, der aus heutiger Sicht allerdings noch Lichtjahre von der Qualität begeisternder landestypischer Popfolklore entfernt war. Traditionalisten erfreute das israelische „Ben Adam“, das jedoch ebenfalls an ein stimmungsvolles „Hallelujah“ nicht heranreichte. Richtig in Wallung geriet die Feierrunde aber eigentlich nur bei der britischen Einsendung „Go“. Meine liebe angelsächsische Brieffreundin Miss H., ebenso eurovisionsaffin wie ich, hatte mir die Single wenige Wochen zuvor auf dem Postweg zukommen lassen, seitdem lief sie im heimischen Apartment in „heavy rotation“. Im Grunde war „Go“ der absolut krasse Gegenentwurf zu meinem sonstigen Musikgeschmack, griff aber – nicht allein des Alkohols wegen – offensichtlich eine Stimmung auf, die an jenem Abend im April kollektiv angenommen wurde. So hatten mein bester Freund Herr B. und ich uns trotz der frühen Startnummer von Scott Fitzgerald bereits eingesungen und grölten, kurz nachdem Ronnie Hazlehurst den Taktstock geschwungen hatte, laut und textsicher mit. Der Sieger war gefunden!

ch88Leider nur fast. Beim abschließenden Voting lag plötzlich eine Kanadierin aus der Schweiz vorne, die uns zuvor nur aufgrund ihrer schrecklichen Minipli / Nase / Körperhaltung aufgefallen war. Als sie sang, wurde nämlich die BFBS-Übertragung unterbrochen, da eindringlich nach einem Sergeant Smith oder so ähnlich gefahndet wurde. Bis heute ist nicht aufgeklärt, was der Kerl eigentlich angestellt hatte, aber dem britischen Soldatenfunk war die Meldung anno dazumal nahezu drei Minuten Sendezeit wert. Von „Ne partez pas sans moi“ hatten wir also so gut wie nichts gehört und wunderten uns, dass ausgerechnet diese schäbige Frau unserem Scott gefährlich werden sollte. Und wenn die Wertung Kult ist, wie Peter Urban heutzutage nicht müde wird zu sagen, dann gilt das sicherlich für das 88-er Voting. In der letzten Punktevergabe erhielt die nordamerikanische Schweizerin schlappe sechs „Votes“, womit sie nur einen Punkt vor dem United Kingdom lag. Das is geritzt, der Scott räumt jetzt die famosen „douze Points“ ab, dachten wir – und er wohl auch. Doch Pustekuchen! Die einzig noch wertenden Jugoslawen machten damals schon auf Diva und ließen „Go“ komplett leer ausgehen. Schockschwerenot – darauf nahmen wir allesamt einen großen Schluck, lauschten dem nochmals vorgetragenen Siegertitel der erst Ewigkeiten später weltbekannten Eidgenossin mit Migrationshintergrund und schmissen schnell den Schallplattenspieler an, um todtraurig und zum Leidwesen der Nachbarn für den Rest der Nacht „Go before you break my heart once more“ zu schmettern. Ja, wir waren ein musikalisch begnadeter Haufen damals… Coverfotos: Jupiter/PRT/Carrere

scoreboard 1988Foto Scoreboard & Logo: EBU


Eurovisionäre Nachhilfe: 22. April 1978

1978Irgendwie zeichnete sich von Anfang an ab, dass der Song Contest 1978 nicht besonders glorios daherkommen und meine seit 74 angefachte Eurovisionsbegeisterung spürbar dämpfen sollte. Eine deutsche Vorentscheidung gabs erst gar nicht zu sehen. Sie fand zwar statt, aber nur im Radio und ging völlig an mir vorbei. Wie auch an der ebenfalls an der Liedsuche beteiligten Jury. Diese nämlich empfand einen der vorgestellten Beiträge grauenhafter als den anderen und verweigerte sich einer Wertung, da überhaupt keines, keines, keines der eingereichten Lieder wettbewerbsfähig sei. Lediglich eine Empfehlung gab sie den Verantwortlichen beim Südwestfunk mit auf den Weg: Deutschland möge sich am besten ganz vom Schlagerfestival zurückziehen! Das passte zur ewigen Knatscherei der von Hochkultur träumenden Journalisten und heimischen Liedermacher-Muschpoke, die gebetsmühlenartig das ihrer Meinung abtörnende Niveau des Wettsingens alljährlich beklagten.

d78Der SWF jedoch schlug sich ein Ei auf die Meinung der Experten und entschied kurzerhand, dass halt die Favoritin der Radiohörer, Ireen Sheer, zum Finale entsendet werden sollte. Teuer konnte der „Spaß“ eh nicht werden, sollte doch die Veranstaltung in einem schmucklosen Kongresszentrum in Paris, quasi um die Ecke stattfinden. Zudem hatte man sich die Peinlichkeit wie auch die Kosten einer öffentlichen TV-Vorentscheidung erspart. Und da die englische Sirene schon einige Zeit keinen veritablen Hit mehr vorzuweisen hatte, ließ sie sich auf diesen Kuhhandel ein und überlegte, wie sie Europa, wenn sie schon ein angeblich so unterirdisches Liedchen sänge, beeindrucken könnte. Kurz vor der Abreise endlich, als sie ihr neues Lieblingscape in den Koffer packte, kam ihr eine Idee…

Ehrlich gesagt war mir Ireen Sheer schnuppe. 1978 war einfach nur Disco, Disco, Disco angesagt, seit Saturday Night Fever erschien eine großartige Hymne nach der anderen und ich lechzte wie auf Droge danach. Das deutsche „Feuer“ konnte dagegen nur abstinken, wenngleich es einen – sagen wir einfach mal mutig – Beat hatte, der mit viel Wohlwollen dem damaligen Tanzschuppen-Rhythmus nahe kam. Noch etwas näher am Zeitgeist war das spanische Duo Baccara, das im vorherigen Sommer ganz Europa mit angeblichen Boogiekünsten bezirzt hatte, und nun für Luxemburg den Song Contest gewinnen wollte. „Parlez-vous francais?“ – eine Frage, die im Land der Franzosen etwas dämlich wirkte – hauchten sie ebenso unverständlich wie schon ihre englischsprachigen Hits. Doch auch Baccara fand ich mittlerweile eher uncool. Anders übrigens als ein guter Freund, der damals (wie ich erst vor kurzem erfuhr) stundenlang vor einer ortsansässigen Wüstenrotfiliale stand, um ein Autogramm der Grazien zu ergattern, das Mayte und/oder Maria dann, wohl um Missverständnisse zu vermeiden, sinnigerweise gleich mit Baccara unterschrieben.

lx781978 also waren sie auf dem Papier der heißeste Act, mit Nummer-Eins-Erfolgen quer durch Europa, was ich nach dem ganzen Lamento um die verschmähte Ireen grundsätzlich okay fand. Und auch wenn kein Mensch ihr Kauderwelsch verstehen konnte, gingen die schwarz-weißen-Tänzerinnen als große Favoritinnen an den Start. Dann aber hat wahrscheinlich die zuvor schon Unruhe stiftende deutsche Expertenjury mal eben ihre europäischen Kollegen in den angeschlossenen Funkhäusern angerufen und diese ins Gebet genommen, denn prompt gingen die spanischen Luxemburgerinnen beim abschließenden Voting unter wie ein Stein im Wasser. Lediglich für Platz sieben sollte es am Ende reichen, trotz anfänglicher Douze Points aus Portugal, Spanien und Italien. Eine Blamage! Tja, und wer lag zum Schluss gar knapp vor den beiden iberischen Edelrosen? Unsere Ireen natürlich! Die hatte, zäh wie Leder und allen Anfeindungen zum Trotz, ziemlich berechnend ein innovatives Element in den europäischen Gesangswettstreit eingebracht, auf das fortan so manch verzweifelter Interpret nicht mehr verzichten wollte: den Kostümweitwurf! Ihr schickes weißes Cape schleuderte sie beim ersten Refrain voller Verve quer über die französische Bühne, was heute in kaum einem TV-Rückblick fehlen darf, damals für Aufmerksamkeit sorgte und prompt von den Musiksachverständigen mit Platz sechs belohnt wurde.

il78Ähnliche Fachkenntnis bewiesen dieselben Juroren, als sie das israelische Kinderlied, dessen simpler Text putzig wie im Kibbuz vorgetanzt wurde, auf Rang eins setzten. Zugegeben, es war einer der wenigen tatsächlich eingängigen Beiträge in einer ansonsten eher sterbenslangweiligen Konkurrenz. Selbst auf die Briten war in diesem Jahr kein Verlass, kopierten sie mit Coco doch ihre eigene Song-Contest-Historie, was letztlich mit der bis dato schlechtesten Platzierung für das Vereinigte Königreich bestraft wurde. Europas bestes Lied sollte also gar nicht aus Europa, sondern aus Israel kommen, womit sich der Kreis zum Anfang dieses kleinen Artikels schließt. Auf dem ganzen Kontinent war kein eurovisionäres Hitmaterial vorhanden, der Glamourfaktor, den Abba vier Jahre zuvor ins Spiel gebracht hatten, war plötzlich nirgends mehr auszumachen. Wen wundert es da, dass die gastgebenden Franzosen die Veranstaltung wie die Übertragung eines Staatsbegräbnisses inszeniert und mit einem Fahrstuhl zum Schafott garniert hatten? Folglich war der 78er Jahrgang auch in Sachen Chartbuster ein ziemlicher Reinfall: „A-Ba-Ni-Bi“, der Siegertitel, schaffte es gerade mal bis auf Platz 22, die spanischen Tänzerinnen bis 21 und die unverwüstliche Mrs Sheer (die danach nur noch Kopfweh beklagte) lediglich auf Rang 39 der heimischen Verkaufshitparade. 1979 konnte nur besser werden – und wie wir mittlerweile wissen, war es das – dem Eurovisionsgott sei dank – dann auch!
Coverfotos: EMI, RCA, Polydor

scoreboard 1978Foto Scoreboard & Logo: EBU


Eurovisionäre Nachhilfe: 06. April 1974

abba 1974 universal bubi heilemannFoto: Universal/BubiHeilemann

1974An diesem Tag – also heute vor vierzig Jahren – wurde ich eurovisionär! Das hört sich spektakulär an, war es anfänglich aber überhaupt nicht. Denn während ich im Vorfeld des Wettbewerbs die damals alljährlich in der Bravo erscheinende Grand-Prix-Übersicht studierte, sympathisierte ich bestenfalls mit den heimischen Vertretern Cindy & Bert, was ich aus heutiger Sicht mal als Jugendsünde entschuldigen möchte. Mouth & McNeal aus Holland könnten den Deutschen vielleicht gefährlich werden, mutmaßte ich, denn auch die kannte ich aus der ZDF-Hitparade. Olivia Newton-John fand ich dagegen schon immer doof.

swe74Dann der 06. April: ich durfte ausnahmsweise länger aufbleiben und tatsächlich meine erste Eurovision am Bildschirm verfolgen! Ein Abend voller Ooh-, Hui- und Aha-Erlebnisse: Nie zuvor hatte ich diese Fanfare gehört, die das Festival feierlich eröffnete, und einen Kommentator, der erklären musste, was die Ansagerin im Morgenrock erzählte. Europäische Länder kannte ich zwar aus dem Diercke-Schulatlas, dass diese jedoch um die Wette sangen, war mir bis zu dem Zeitpunkt noch nicht untergekommen. Ich war aufgeregt wie Bolle, doch die ersten Lieder – passend zum ehrwürdigen Dome-Theater, in dem sie vorgetragen wurden – waren allesamt recht brav und langweilig, einschließlich das der von mir verhassten Australierin, die für England startete, wo moderne Musik ja eigentlich herkam. Noch ahnte ich nicht, dass sich innerhalb einer knappen Stunde meine Vorstellung von Pop für immer verändern sollte. Werner Veigel sagte die Startnummer acht an, als Agnetha und Annafrid die Bühne erstürmten und die glitterige Deko wie für sie gemacht zu sein schien. „My my, at Waterloo Napoleon did surrender!“ Sofort war mir klar, dass das piefige deutsche Duo dagegen nur abstinken konnte und seine Mikros am besten schnell wieder eingepackt hätte. Okay, die Holländer waren ganz lustig, die Italienerin offensichtlich sehr traurig und die Israelis hatten rattenscharfe Pullunder an. Mein Favorit für diese seltsame Hitparade aber stand schnell und unerschütterlich fest – es waren die schwedischen Abbas (diese Pluralform wurde damals übrigens wirklich benutzt).

nl74Im familiären Umfeld dagegen kam „Waterloo“ gar nicht gut an, Hippies hatten schließlich beim Schlagerwettbewerb nichts zu suchen! Freundliche Fräuleins wie Severine, Dana und Vicky Leandros waren es, die das Spektakel die letzten Jahre über dominiert hatten. Gruppen waren demgegenüber erst seit zwei Jahren bei der Eurovision offiziell zugelassen und als Vertreter der so genannten Beatmusik im Grunde genommen (noch) vom Schlagermainstream verpönt. Heute weiß ich natürlich um die an jeder Ecke lauernde behäbige Spießigkeit der Siebziger, damals erahnte ich sie nur. Abba waren daher so was wie ein frischer Luftzug, der pfeilschnell durchs muffige Wohnzimmer zog. Knallbunte Lichter in meiner bis dato eher schwarz-weißen Welt!

Dann folgte die für heutige Verhältnisse recht flotte Wertungsprozedur unter Leitung von Katie Boyle (immer noch im puscheligen Morgenmantel): 24 Votes, trotz der Null-Punkte-Klatsche der angelsächsischen Juroren reichte das zum Sieg, der vielleicht am riesigen Brightoner Scoreboard nicht übermäßig eindrucksvoll daher kam, für die europäische Gesangsveranstaltung jedoch einen tiefen Einschnitt darstellte. Urplötzlich wurde der Grand Prix Eurovision zum Eurovision Song Contest (obschon die Briten diesen Namen bereits in den 60ern einführten, er sich aber lange Zeit gegen den französischen Terminus nicht durchsetzen konnte) und lieferte wahrhaftiges Hitmaterial. Und ich hatte ihn für mich entdeckt und wollte ihn nie mehr loslassen!

lx74Nur so am Rand bekam ich in den Wochen danach mit, dass der Kanzler umziehen musste und wegen Beckenbauer ein riesiger Fußball auf unsere Straße gemalt wurde. Abba dudelte ich während jenes Sommers (der nach Aussage des DWD angeblich zu kühl, in meiner Erinnerung jedoch sehr warm war) rauf und runter. Zwar hatten es selbst Frau Sheer und der dicke Holländer auf meine vom Radio aufgenommene himmelblaue Musikkassette geschafft, dennoch gierte ich pausenlos nach neuen Melodien der vier Schweden, die mich auf immer größeren Postern aus jeder Ecke meines Kinderzimmers anlächelten. Und auf meine damalige Lieblingshose, ein giftgrünes Polyesterding mit überdimensionalem Schlag, durfte ich unter Aufsicht meiner Oma das Kürzel ABBA aufbügeln. Vorsichtig, damit die Hose nicht in Flammen aufging. Auch als die Skandinavier – seltsamerweise – innerhalb weniger Monate bei meinen Klassenkameraden jäh uncool wurden, blieb ich ihnen treu und sparte mein Taschengeld weiterhin für stets neue Alben und Singles. Über acht Jahre – meine gesamte Teenagerzeit – ging das so, sie waren immer da und machten mich mit ihrer Musik glücklich. Dann kam nichts Neues mehr. Lange hatte ich gewartet, dass sie wie alle anderen irgendwann einfach wiederkommen. Sie taten es nicht. Mittlerweile denke ich mir, dass das ein Glück war. Denn möglicherweise nur deswegen bleiben sie selbst heute für den Eurovisionär so frisch und fabelhaft wie am 06. April 1974.  Coverfotos: EBU/ Polydor (2) / Decca

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Foto: EBU


Eurovisionäre Nachhilfe: 03. April 1976

19761976 war der Grand Prix Eurovision so populär wie nie zuvor – und niemals danach wieder. Grund hierfür war zuallererst der Überraschungssieg von Abba mit „Waterloo“ zwei Jahre zuvor und dessen musikalisch etwas dünnere Fortsetzung mit dem holländischen „Ding-A-Dong“ 1975. Innerhalb kürzester Zeit war der Song Contest vom Chanson- zum zeitgemäßen Popmusikwettbewerb mutiert, dessen Siegertitel nicht nur internationale Charterfolge wurden, sondern – das war neu – seinen Interpreten auch etwas ähnliches wie eine überschaubare Karriere mit Nachfolgehits bescherten.

d76Es schien daher ein glücklicher Zufall zu sein, dass sich in der bundesrepublikanischen Vorauswahl zwar zuerst der Barde Tony Marshall durchsetzen konnte, wegen dessen nationaler Disqualifikation aber letztlich die Anfang der Siebziger recht hippe Formation Les Humphries Singers nach Den Haag geschickt wurde. Nichts wollten die Deutschen mehr als europäische Anerkennung durch einen Sieg beim Song Contest, also vertraute man der zuletzt gültigen Erfolgsformel und schickte erstmals eine Band zum Schlagerwettbewerb. Es endete mal wieder in einem Fiasko. Der Beitrag „Sing Sang Song“ war noch einfacher gestrickt, als es der Titel schon vermuten ließ und rangierte am Ende des Abends auf Platz 15. Es war – wie selbst heute noch so oft – der vergebliche Versuch Ralph Siegels, so etwas wie aktuellen Pop zu komponieren. Doch die Jugend konnte er mit seinem umständlichen ESC-Konstrukt überhaupt nicht erreichen. Lediglich bis auf Rang 45 der Mediacontrol-Charts schaffte es der Siegelsche Singsang, und auch ich als treuer Single-Käufer und Eurovisionsfan verweigerte mich. Und die Jurys Europas eben auch.

uk76Statt dessen setzten sie – wie schon im Jahr zuvor – ausgerechnet den Song auf Platz eins, der auch als erster des gesamten Teilnehmerfeldes vorgetragen wurde. Brotherhood of Man, die mir als fleißiger Mal-Sandock-Hörer schon seit Monaten mit „Kiss me, kiss your Baby“ im Ohr waren, führten mit ihren aus heutiger Sicht affigen Tanzschrittchen zu „Save your Kisses for me“ erstmals das choreografische Element in den Wettbewerb ein. Am 03. April 1976 sorgte es maßgeblich dafür, dass die Juroren den britischen Auftritt nicht vergaßen und mit Höchstwertungen überschütteten. Natürlich funktionierte ebenso die bei den famosen Schweden abgekupferte Formel „zwei Jungs, zwei Mädchen“ und der Charterfolg in der Heimat, wo der Song schon vor dem Contest auf Platz eins der BBC-Top-40 kletterte. Dort reichte es gar für zwei weitere Top Hits 77 und 78, aber eigentlich blieb die Band immer ein peinlicher Abba-Klon. Doch während diese Mitte 1976 mit „Dancing Queen“ schon in einer anderen Liga spielten und nunmehr seit über dreißig Jahren ihr Renterdasein genießen, tingeln die Briten bis zum heutigen Tage durch die ESC-Shows Europas.

mc76Dennoch täuscht das scheinbar so eindeutige Votum des 76-er Wettbewerbs, der knallvoll mit guten, eingängigen Beiträgen war: Monaco versuchte sich erfolgreich an den damals allmählich populären Discosounds, Frankreich und Österreich hatten wirklich tolle Schlager am Start, Belgien eine wundervolle Ballade und Israel einen richtig guten Popsong. Viele schafften es während des heißen Sommers in die europäischen, aber auch bundesdeutschen Charts und sorgten für einen hohen kommerziellen Wert dieses – rückblickend betrachtet – außergewöhnlichen Jahrgangs.

sf76Und in einen mittelschweren Schreikrampf versetzt mich auch heute noch der legendäre finnische Beitrag „Pump Pump“ des gemütlichen Fredi. Zwei seiner „Friends“, die beiden Tänzerinnen, hatten kurz vor dem großen Auftritt wohl aus Langeweile Ecstasy-Bonbons gelutscht, die die beiden so in Fahrt brachten, dass der Sänger aus Suomi vermutlich noch Wochen danach blaue Flecken an der Hüfte hatte. Für solche Momente liebe ich die Eurovision!
Coverfotos: Decca, Pye Records, Polydor, Philipps

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Foto: EBU


Eurovisionäre Nachhilfe: 31. März 1979

1979Ich bin mir nicht sicher, ob es viele Menschen gibt, die sich wie ich zuweilen wehmütig erinnern, was an jenem Tag vor wer-weiß-nicht-wie-vielen Jahren passiert ist. Nun ja, der Wetterbericht tut’s manchmal. Und die Tagesschau auch – aber immer nur in 25-Jahres-Schritten… Machen wir also ein Fass eine neue eurovisionäre Rubrik auf und gehen wir auf eine Zeitreise exakt 35 Jahre zurück zum 31. März 1979!

d79Heute unvorstellbar, war die deutsche Vorentscheidung in der inzwischen kultigen Rudi-Sedlmayer-Halle gerade mal zwei (!) Wochen vorher über die Bühne gegangen. Erstmals unter der Regie des Bayrischen Rundfunks, moderiert von dessen auch heute noch alterslosen Schlachtross Carolin Reiber. Und mit einem atemberaubenden neuen Auswahlverfahren, der demoskopischen Befragung ausgewählter Zuschauer. Das war zu der Zeit so hip wie heute vielleicht ein social-media-gesteuertes Online-Voting. Damals brachte es uns jedenfalls eine wilde Siegertruppe namens Dschingis Khan, die später – was noch keiner ahnte – Schlagergeschichte schreiben sollte. Wonach es im März 79 zuerst gar nicht aussah, denn das prüde Deutschland regte sich schnell über den Rauf-und-Sauf-Text auf, und schämte sich, dass ausgerechnet beim Grand Prix Eurovision in Israel ein mongolischer Eroberer mit den Zeilen „Sie trugen Angst und Schrecken in jedes Land“ besungen werden sollte. Mir als Teenager war das ziemlich schnuppe und so hatte ich wenige Tage später meine erste Dschingis Khan-Single in den Händen und fand die Band allein cool, weil im Jahr fünf nach Abba bizarre Kostüme und endlich mal wieder so was wie Popmusik zum Contest geschickt wurden. Was uns Ralph Siegel, der in jenem Frühling so nah wie nie mehr danach am musikalischen Zeitgeist war, in der Folge noch alles antun sollte, wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht…

Der große Finalabend in Jerusalem war für mich an der Mattscheibe zu Hause dann jedoch eine unendliche persönliche Enttäuschung. Als Minderjähriger durfte ich zwar Einfluss auf die Programmauswahl im elterlichen Haushalt ausüben, geguckt wurde trotzdem das, was die Erwachsenen bestimmten. So musste ich bei Schnittchen und Limo als televisionäre Samstagabend-Alternative „Musik ist Trumpf“ über mich ergehen lassen, was schon damals die Höchststrafe in Sachen Fernsehunterhaltung darstellte. Wenigstens wurde zwischendurch immer mal in die Übertragung des israelischen Rundfunks gezappt, das gerade erst das Farb-TV eingeführt hatte und dessen Ton an jenem Abend so sehr rauschte, als wären wir Zeugen einer Sondersendung vom Mond. Egal – schließlich wollte man „Die Deutschen“ sehen, über die sich grad alle das Maul zerrissen, und hoffte – ganz teutonisch! – auf deren fette Bauchlandung beim Chansonwettbewerb.

e79Da – endlich – ab ca. 22.30 Uhr auf den anderen zwei Kanälen nix Gescheites mehr lief, wurde nun zur ARD umgeschaltet und ich sah gerade noch den Auftritt der letzten Starterin Senora Missiego aus Spanien. Im heimischen Wohnzimmer wurde deren Schlager alter Schule gouttiert, es gab ja auch keinen Vergleich zu den übrigen 17 Teilnehmern… Aus heutiger Sicht war die Betty, die eigentlich aus Südamerika kam, eine ganz Schlaue: sie scherte einfach vier knuffige südländische Grundschüler um sich, die mit ihrem penetranten  „La la la“ den Hauptteil des Gesangs tragen mussten, und machte zwischendurch ein wenig auf Oberlehrerin. Natürlich kam das bei den wohl auf Zucht und Ordnung bedachten Jurys mächtig gut an, denn ihr Beitrag lag auf dem Wertungstableau lange vorn (der Begriff Scoreboard war hierzulande noch unbekannt). Doch dann hatten die Spanier offensichtlich noch einmal in ihre Portokasse geschaut, die defintiv zu blank war, um den Contest im folgenden Jahr auszurichten: Madrid wurde zur letzten Wertung des Abends aufgerufen und sorgte für fette Überraschungen. Halbwegs unverhofft gab Espana ausgerechnet dem verpönten deutschen Sauflied die berühmten „douze points“. Noch atemberaubender jedoch: Nachdem der oberste spanische Fernsehdirektor wohl den Rechenschieber rausgeholt hatte, erhielt Israel satte 10 Punkte. Das reichte für einen erneuten Sieg und Spanien rutschte auf Platz zwei zurück. Den Moderatoren Yardena Arazi und Daniel Peer stockte fast der Atem – mussten sie sich im kommenden Jahr noch einmal vor 500 Millionen Fernsehzuschauern blamieren?

il79Dazu kam es nicht, wie wir heute wissen. Die Israelis kniffen und machten sich einfach für eine Ausgabe aus dem Staub. Am 31. März jedoch sangen alle siegestrunken „Hallelujah“, ein Lied, so unkte der Print-Kommentator HGR, dass „man nach vier Wochen wieder total vergessen haben wird“. Wie so viele Kritiker, die den Wettbewerb zur damaligen Zeit alljährlich totsagten, hatte auch er sich geirrt. Dschingis Khan, deren Beitrag einen unerwarteten vierten Platz bei Schlagerfestival erreichte, schaffte es danach bis auf die Spitzenposition der bundesrepublikanischen Charts. Und während gegen Mitternacht der Abspann über die Bildschirme lief, nahm sich die enttäuschte Frau Missiego im On einen großen Schluck aus der Champagnerflasche und überlegte, mit wem sie zu Hause wohl zuerst ein spanisches Hühnchen rupfen würde… Coverfotos: JupiterRecords / Mercury / Polydor

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Foto: EBU