Eurovisionäre Nachhilfe: 31. März 1979
Category : Allgemein
Ich bin mir nicht sicher, ob es viele Menschen gibt, die sich wie ich zuweilen wehmütig erinnern, was an jenem Tag vor wer-weiß-nicht-wie-vielen Jahren passiert ist. Nun ja, der Wetterbericht tut’s manchmal. Und die Tagesschau auch – aber immer nur in 25-Jahres-Schritten… Machen wir also
ein Fass eine neue eurovisionäre Rubrik auf und gehen wir auf eine Zeitreise exakt 35 Jahre zurück zum 31. März 1979!
Heute unvorstellbar, war die deutsche Vorentscheidung in der inzwischen kultigen Rudi-Sedlmayer-Halle gerade mal zwei (!) Wochen vorher über die Bühne gegangen. Erstmals unter der Regie des Bayrischen Rundfunks, moderiert von dessen auch heute noch alterslosen Schlachtross Carolin Reiber. Und mit einem atemberaubenden neuen Auswahlverfahren, der demoskopischen Befragung ausgewählter Zuschauer. Das war zu der Zeit so hip wie heute vielleicht ein social-media-gesteuertes Online-Voting. Damals brachte es uns jedenfalls eine wilde Siegertruppe namens Dschingis Khan, die später – was noch keiner ahnte – Schlagergeschichte schreiben sollte. Wonach es im März 79 zuerst gar nicht aussah, denn das prüde Deutschland regte sich schnell über den Rauf-und-Sauf-Text auf, und schämte sich, dass ausgerechnet beim Grand Prix Eurovision in Israel ein mongolischer Eroberer mit den Zeilen „Sie trugen Angst und Schrecken in jedes Land“ besungen werden sollte. Mir als Teenager war das ziemlich schnuppe und so hatte ich wenige Tage später meine erste Dschingis Khan-Single in den Händen und fand die Band allein cool, weil im Jahr fünf nach Abba bizarre Kostüme und endlich mal wieder so was wie Popmusik zum Contest geschickt wurden. Was uns Ralph Siegel, der in jenem Frühling so nah wie nie mehr danach am musikalischen Zeitgeist war, in der Folge noch alles antun sollte, wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht…
Der große Finalabend in Jerusalem war für mich an der Mattscheibe zu Hause dann jedoch eine unendliche persönliche Enttäuschung. Als Minderjähriger durfte ich zwar Einfluss auf die Programmauswahl im elterlichen Haushalt ausüben, geguckt wurde trotzdem das, was die Erwachsenen bestimmten. So musste ich bei Schnittchen und Limo als televisionäre Samstagabend-Alternative „Musik ist Trumpf“ über mich ergehen lassen, was schon damals die Höchststrafe in Sachen Fernsehunterhaltung darstellte. Wenigstens wurde zwischendurch immer mal in die Übertragung des israelischen Rundfunks gezappt, das gerade erst das Farb-TV eingeführt hatte und dessen Ton an jenem Abend so sehr rauschte, als wären wir Zeugen einer Sondersendung vom Mond. Egal – schließlich wollte man „Die Deutschen“ sehen, über die sich grad alle das Maul zerrissen, und hoffte – ganz teutonisch! – auf deren fette Bauchlandung beim Chansonwettbewerb.
Da – endlich – ab ca. 22.30 Uhr auf den anderen zwei Kanälen nix Gescheites mehr lief, wurde nun zur ARD umgeschaltet und ich sah gerade noch den Auftritt der letzten Starterin Senora Missiego aus Spanien. Im heimischen Wohnzimmer wurde deren Schlager alter Schule gouttiert, es gab ja auch keinen Vergleich zu den übrigen 17 Teilnehmern… Aus heutiger Sicht war die Betty, die eigentlich aus Südamerika kam, eine ganz Schlaue: sie scherte einfach vier knuffige südländische Grundschüler um sich, die mit ihrem penetranten „La la la“ den Hauptteil des Gesangs tragen mussten, und machte zwischendurch ein wenig auf Oberlehrerin. Natürlich kam das bei den wohl auf Zucht und Ordnung bedachten Jurys mächtig gut an, denn ihr Beitrag lag auf dem Wertungstableau lange vorn (der Begriff Scoreboard war hierzulande noch unbekannt). Doch dann hatten die Spanier offensichtlich noch einmal in ihre Portokasse geschaut, die defintiv zu blank war, um den Contest im folgenden Jahr auszurichten: Madrid wurde zur letzten Wertung des Abends aufgerufen und sorgte für fette Überraschungen. Halbwegs unverhofft gab Espana ausgerechnet dem verpönten deutschen Sauflied die berühmten „douze points“. Noch atemberaubender jedoch: Nachdem der oberste spanische Fernsehdirektor wohl den Rechenschieber rausgeholt hatte, erhielt Israel satte 10 Punkte. Das reichte für einen erneuten Sieg und Spanien rutschte auf Platz zwei zurück. Den Moderatoren Yardena Arazi und Daniel Peer stockte fast der Atem – mussten sie sich im kommenden Jahr noch einmal vor 500 Millionen Fernsehzuschauern blamieren?
Dazu kam es nicht, wie wir heute wissen. Die Israelis kniffen und machten sich einfach für eine Ausgabe aus dem Staub. Am 31. März jedoch sangen alle siegestrunken „Hallelujah“, ein Lied, so unkte der Print-Kommentator HGR, dass „man nach vier Wochen wieder total vergessen haben wird“. Wie so viele Kritiker, die den Wettbewerb zur damaligen Zeit alljährlich totsagten, hatte auch er sich geirrt. Dschingis Khan, deren Beitrag einen unerwarteten vierten Platz bei Schlagerfestival erreichte, schaffte es danach bis auf die Spitzenposition der bundesrepublikanischen Charts. Und während gegen Mitternacht der Abspann über die Bildschirme lief, nahm sich die enttäuschte Frau Missiego im On einen großen Schluck aus der Champagnerflasche und überlegte, mit wem sie zu Hause wohl zuerst ein spanisches Hühnchen rupfen würde… Coverfotos: JupiterRecords / Mercury / Polydor
Foto: EBU