So wird in Wien gestartet

So wird in Wien gestartet

Das wird zumindest für den eurovisionaer am Samstag wohl weniger spannend: Nach ca. 30 Minuten sind alle seine Lieblinge durch, denn Slowenien, Estland und Norwegen singen bereits im ersten Drittel des unüberschaubar großen  Wiener Teilnehmerfeldes von 27 Nationen.

Doch mehr dazu nächste Woche, wenn die langen Wiener Nächte im Rahmen des sehr kurzweiligen Betriebsausflugs erst einmal verdaut sind. Der treuen Leserschaft einen freudvollen Gruß aus der österreichischen Hauptstadt und einen schönen Song Contest 2015 – wo auch immer Ihr ihn schaut! Bye, Bye, 3 Minutes – I gotta go.

TN Finale 2015

Grafik: eurovisionaer

Der Wunschzettel für Wien

Was mit dem Conchita-Opener spektakulär begann, entpuppte sich im Verlauf des gestrigen ersten Semifinalabends leider als zuweilen schnarchlahme Veranstaltung, die dem Kopenhagener Fest Anno 2014 bislang relativ wenig entgegensetzen konnte. Denn so viele Bierchen hatte der eurovisionaer beim mittlerweile sattsam bekannten Bürgermeister nun auch noch nicht getrunken, als dass ihm so manch Wiener Show-Hänger verborgen geblieben wären. Prompt hat er sich heute Morgen mal wieder ganz neunmalklug hingesetzt und einen Wunschzettel an den ORF für die zwei verbleibenden Shows geschrieben:

1. Fake-Applaus einspielen – wie zumindest bei der russischen Polina und der serbischen Bojana deutlich hörbar – geht gar nicht. Wer nun, ob ORF oder EBU, die innovative Idee hatte, die Wiener Stadthalle mit eingespieltem Jubel vom Band zu pimpen – egal. Bitte nie, nie, nie wieder!

2. Die Bühne ist ein Hingucker und lässt den Künstlern genügend Platz, ohne dass sie verloren wirken. Aber bei vielen Acts wäre wohl mit etwas mehr Mühe mehr drin gewesen, was die wunderbaren Inszenierungen der ungarischen und estnischen Auftritte zeigen. Schade, da geht noch was.

3. Wozu drei blasse Moderatorinnen, wenn die eigentliche Gastgeberin des Abends – Conchita Wurst – den Laden sehr gut alleine schmeißen könnte? Alice, Arabella und Miriam: schaut Euch den Contest doch bitte am Samstag auf dem heimischen Sofa an.

4. Müde Einspieler: Wiener Humor hin oder her – die Zwischenfilmchen 2015 lassen uns die wunderbaren „ESC-Book of Records“-Clips vom Vorjahr schmerzvoll vermissen. Und zu allem Übel quatscht Peter Urban sie auch noch von vorne bis hinten zu – ein weiterer Abtörner. Lieber ORF, bitte schick am Samstag nicht noch ein Pferd auf die Stadtrundfahrt!

5. Erledigt und abgehakt: die Verkündung der qualifizierten Finalteilnehmer! So ähnlich muss es auf dem Ablaufplan gestanden haben, denn selten sind die zehn Kandidaten, die am Samstag erneut auftreten dürfen, so schnell und spannungsarm in die Endausscheidung durchgewunken worden. Hoffen wir, dass sich dafür das Finalvoting zum echten Nervenkitzler entwickelt.

ESC-Fans geben die Hoffnung halt nie auf …


Mit den besten Wünschen

Remix ESC 2014 Cover 1000

So, kurz bevor sich der Hausherr nun zur eurovisionaeren Wallfahrt aufmacht, um von dem teuflischen Helene-Virus auf immer und ewig verschont zu bleiben, hat er noch einmal seinen antiseptischen, äh beatlastigen Kopenhagen-Mixdown 2014 herausgekramt. Möge dieser seiner silvesterfeierlaunigen Leserschaft hier oder via Soundcloud einen gar angemessenen Spaß bereiten! Auf ein Neues in 2015!

Ach, und einen guten Vorsatz hat der Autor auch. Er will demnächst kürzere Sätze schreiben.

01 Calm after the Storm (Justin Strikes Bootleg)
02 Start a fire (Etostone House Extended Remix)
03 Rise like a phoenix (Dudi Sharon & Jasmin Remix)
04 Dancing In The Rain (Stormby Extended Club Mix)
05 Cheesecake (DJ Nejtrino & DJ Baur Remix)
06 Undo (Stormby Remix)
07 Silent Storm (Rykkinnfella reconstructed Remix)
08 Children of the Universe (Scott Mills Club Remix)
09 Not Alone (DJ Serjo meets Rob Nagdalyan Remix)
10 Maybe (reconstructed Dance Remix)
11 Rise Up (Dario recontructed Remix)
12 Heartbeat (Morlando Club Mix)
13 Miracle (Alex Stavi Extended Remix)
14 We all (Golkswagen Wolf Remix)
15 Moustache (Fetzki Hands up remix)
16 Same Heart (N-Vision Bootleg Club Mix)

Grafik: eurovisionaer


Der Wiener ESC wird son Frauending

Erst gestern noch jammerte der eurovisionaer dem Fräulein Sichtermann bei nem Bierchen die Ohren voll, dass ihn die Bloggerei gerade wegen des Fehlens atemberaubender News rechtschaffen langweile, prompt kündigt sein Lieblings-Ola (als habe er mal eben mitgelauscht) per Tweet noch für dieses Wochenende nahende Überraschungen an.

Eine ist: Der ORF setzt auf geballte Frauenpower und schickt Mirjam Weichselbraun, Alice Tumler und die unvergessliche Labertasche Arabella Kiesbauer als Moderatorinnen in den ESC-Ring 2015. Und als ob das noch nicht reicht, erfüllt der österreichische Sender seiner Königin Conchita I.  einen Herzenswunsch und überträgt Frau Wurst die Herrschaft im Green Room. Nun mögen manche ja eh schon seit einigen Jahren zweifeln, ob es beim Song Contest überhaupt noch so viel zu tun gibt, dass gleich drei Gastgeber engagiert werden müssen, aber gut, Wien mag es ja von jeher gerne pompös. Und da die beste Freundin ohnehin des Schwulen liebster Kumpel ist, erscheint es fast schon folgerichtig, anderen Männern einfach den Zugang zur Bühne zu verwehren. Ein wenig geht der Schuß aber auch nach hinten los, denn auf testosterongeschwängertes Eye-Candy, keine unwichtige Zutat im eurovisionären Zirkus, müssen wir beim Jubiläums-Grand-Prix nun leider verzichten. Schade, Andi Knoll! Foto: ORF/Thomas Ramstorfer


Conchita – das Buch

conchita backstage“Conchita Wurst bewegt unsere Welt. Sie irritiert, sie fasziniert, nutzt die größte Bühne der Welt – den Eurovision Song Contest – für ihre Botschaft von Freiheit, Respekt und Akzeptanz. Der junge Österreicher Tom Neuwirth hat sie als seine öffentliche Persönlichkeit erschaffen und ist mit dem Sieg in Kopenhagen auf dem Höhepunkt seiner bisherigen Karriere angelangt. Was musste hinter den Kulissen geschehen, um diesen Bühnenerfolg zu ermöglichen? Wer sind die Menschen, die Conchita miterschaffen haben? Was treibt sie an? Wie haben sie zusammengefunden? Viele dieser Wegbegleiter werden im Schatten des Conchita-Hypes leicht übersehen. „Conchita Wurst – backstage“ gibt einigen von ihnen eine Stimme und erzählt ihre Geschichten und die Geschichte des gemeinsamen Erfolgs.”
So weit der Pressetext eines Buches, dessen Autoren Mario R. Lackner und Irving Wolther der Diva des Jahres 2014 – Conchita Wurst – huldigen. Der Frau, der ob ihrer Pointiertheit innerhalb kürzester Zeit nicht nur eine stetig wachsende homosexuelle Anhängerschaft, sondern auch Cher, Jean Paul Gaultier und Elton John an den Lippen hängen, widmen die beiden Jungs in mühevoller Kleinarbeit eine Menge Zeilen, die die tiefere Bedeutung der österreichischen Kunstfigur für Gesellschaft, Politik und Spiritualität darlegen sollen. Erscheinen wird das Oevre am 16. September und interessant ist es nach Aussage der Autoren schon allein deswegen, weil es sich nicht um die herkömmliche 08-15-Star-Biografie handelt, die nach dem Gewinn beim Song Contest schnell auf den Markt geworfen wird. Und wer nicht gar so viel lesen mag, dem sei zum Einstieg folgender Post des wunderbaren Fräulein Sichtermann ans Herz gelegt.
Foto: Edition Innsalz

Geschüttelt, nicht gerührt – 2014 remixed

Remix ESC 2014 Cover 1000leer
Fertig! Selten hat der eurovisionaer so lange an nem Mix rumgefummelt wie an diesem. Dabei lag die Schwierigkeit wohl weniger in einer bislang unbekannten Pingeligkeit des Blogbetreibers, denn in der zwischen Gibraltar und Hammerfest plötzlich ausgebrochenen Zurückhaltung paneuropäischer DJ’s begründet, die sich 2014 offenbar nur noch widerwillig an eurovisionäres Liedgut herantrauten. Egal, nun liegt der Mix ja aufm Tisch bzw. kann er in der Leiste rechts oder via Soundcloud angeklickt werden. Und das passende Tracklisting gibt es selbstverständlich hier.  Ob sich das Unterfangen gelohnt hat, mag der geneigte Zuhörer dann selbst entscheiden…

Grafik: eurovisionaer

Was darf Johnny Depp, was Conchita Wurst nicht darf?

…fragt sich dieser Tage das Fräulein Sichtermann. Nicht schon wieder in der eurovisionaeren Küche, sondern am Rande eines eher eintönigen WM-Spiels – dort genehmigten sich die beiden beim mittlerweile so populären Rudelgucken unter freiem Himmel einige Bierchen – und plapperten sich in kurzer Zeit vom Pilgerfahren über den Schlagerzahnarzt hin zur wundervollen Conchita. Der höchsten Song-Contest-Weihe zum Trotz schlägt sich diese nämlich weiterhin mit der vordergründig aufrichtigen, letztlich jedoch hinterfotzigen Volksmeinung tapfer und niemals müde werdend herum. Grund genug also, das Fräulein Sichtermann um Hilfe einen Gastbeitrag zu diesem Thema bitten, für den sich der Chef sehr herzlich bedanken möchte. Und alle anderen eurovisionaere hoffentlich auch!

conchita www.julianlaidig.com

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Was darf Johnny Depp, was Conchita Wurst nicht darf?

Als Johnny Depp seine Cross-Gender-Performance als Captain Jack Sparrow in Fluch der Karibik ablieferte, war nicht nur das Feuilleton begeistert. Auch die Besucherzahlen an der Kinokasse gaben ihm Recht. Jack Sparrow, Verzeihung, Captain Jack Sparrow, kultivierte den Machismo des von seiner Selbstverliebtheit besessenen Egomanen mit einer androgynen Attitüde, die nicht selten in Selbstironie umschlug und gerade deshalb die Karikatur und die Rollenklischees vermied.

Ein anderes Beispiel gefällig? David Beckham war einst ein begabter Fußballer, von dem nicht weiter zu handeln wäre, hätte er nicht irgendwann Posh Spice kennen gelernt, die sich fortan als Victoria Beckham neu erfinden sollte. Sie lehrte ihn die Kunst der Mode, die alles, was bis dahin wichtig war, zumindest im Leben eines Fußballers, in den Schatten stellen sollte. Mit ihm war die Metrosexualität geboren, die als neuer Hype das noch junge Millenium beflügeln sollte. Wen kümmerte es, dass David Beckham nicht länger zum Spielgeschehen beitragen konnte, solange nicht ein fähiger Stylist seine Haare in jeder Pause wieder in Form bringen sollte. Schwitzen, keulen, wie weiland Hans-Peter Briegel mit seiner Prolo-Dauerwelle, war nicht sein Ding und so erfreut sich die Gelfrisur noch heute in der Amateurliga ebenso große Beliebtheit wie das Haarband bei den Fußballern, die die gepflegte Matte bevorzugen.

Spätestens seit die Modemacher androgyne Männermodels auf den Laufsteg schicken, um, ja, Frauenkleider zu präsentieren, sollte klar geworden sein, dass sich einiges getan hat: Gender is an illusion. Nun ja, nicht ganz: Es betrifft wohl nur die Ebene der optischen Oberflächen, dahinter, noch immer, waschechte Homophobie. Das Fräulein, ganz arglos zum ersten Mal beim Eurovisionsfinale mit Conchita Wurst konfrontiert, fragt sich noch immer, was genau den Sturm der Entrüstung um diesen Travestiekünstler ausgelöst haben mag, der mit Entgleisungen einher ging, die zu beleidigend sind, um hier wiederholt zu werden.

Das Spiel des Androgynen beruht stets auf dem Schein. Und solange alles ein Spiel bleibt, eine Rolle in einem Film, ein Habitus in einem Trend, applaudiert man gern. Was für eine Bigotterie. Wenn sich jemand dem Spiel der Maskeraden verweigert, weil er die eindeutige Geschlechterzuschreibung selbst in der Illusion durchbricht, das Männliche im Weiblichen und das Weibliche im Männlichen offen zeigt, dann kehrt er die Regeln des Spiels nicht nur um. Er stellt das Spiel selbst in Frage. Genau das scheint Conchita Wurst so unbehaglich zu machen. Hier nimmt sich jemand das Recht, das Konzept des Transgender nicht als Attitüde, sondern als Leben zu leben und dessen Widersprüchlichkeiten auszuhalten. Der Österreicher, der Wiener zumal, könnte einmal an Sigmund Freud denken, der schon wusste: Das Gegenteil von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit. Und jeder, der mit dem Spiel der Figur und der Wirklichkeit des Künstlers nicht umgehen kann, ist eine verdammt armselige und ängstliche Wurst.

(Das Fräulein Sichtermann sieht fern und denkt hier regelmäßig über die Naturgesetze im Kosmos der Seifenoper nach.)

Foto: julianlaidig.com

Wurst oder Wiener Schnitzel?

Treffen EBU ORF - FOTO ORF Milenko Badzic
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So schnell kann’s gehen: Kaum ist Conchita phoenixgleich der Asche entstiegen, ist schon wieder alles vorbei und die ersten Fans plagt die leidvolle PED.  Immerhin – in dieser Woche  trafen sich in Wien bereits EBU-Vertrteter und die TV-Gewaltigen des österreichischen Rundfunks zum lockeren Plausch mit Gruppenfoto, um die Eckdaten des  60. Eurovision Song Contest 2015 zu besprechen. Nach dem ESC ist halt vor dem ESC! Laut ORF soll die Entscheidung über den Austragungsort in ca. zwei Monaten fallen, der aber – so will es die EBU – nicht unter freiem Himmel sein darf, folglich wäre wohl jeder andere Ort als Wien eine fette Überraschung. Derweil ist auch Frau Wurst fleißig: Während alle Welt sich in der eignen Toleranz suhlt, gibt sie in „fluent English“ der BBC Interviews, lässt sich von 10.000 begeisterten Anhängern auf dem Wiener Ballhausplatz feiern und werkelt insgeheim sicherlich schon an ihrem nächsten Traum, der Moderation des in 12 Monaten anstehenden Schlagerfestivals.

Bevor also am 16. Mai kommenden Jahres eine neue Wurst gekürt wird, tut sich derzeit in den kontinentalen Charts Erstaunliches. Besser als erwartet schlägt sich „The Queen of Europe“ in den Hitparaden, schließlich bedient „Rise like a Phoenix“ nicht gerade dortige kommerzielle Erfolgsmuster. Noch begnadeter schneiden die niederländischen Common Linnets ab, die zumindest in der ersten Verkaufswoche nach dem Wettbewerb in nahezu jedem Winkel der alten Welt Spitzenpositionen einnehmen. Und auch wenn diese in der Folgewoche wahrscheinlich kaum zu halten sind, so wundert sich die Musikwelt dennoch über das große Interesse an den diesjährigen Beiträgen, das beispielsweise – dem schnellen Download sei Dank – zu insgesamt 12 Neunotierungen im ehrwürdigen United Kingdom bzw. 13 in den deutschen Top-100 führte. Respekt!

Foto: EBU / ORF / Milenk Badzic
Calm after the Storm 9 3 1 1 4 3 5 4 2 6 1
Rise like a Phoenix 17 5 2 3 9 2 17 10 6 2 8

We are unstoppable

conchita von unten

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Europa hat in der Nacht von Samstag auf Sonntag ein Zeichen gesetzt. Von Helsinki bis Lissabon, von Reykjavík bis Moskau. Ja, auch Russland hat Punkte nach Österreich geschickt (unsere reaktionäre deutsche Jury jedoch leider nicht)! Alles nur ein Sieg der das Festival liebenden Gay Community? Nein, denn so viele Homos kann es beim besten Willen europaweit gar nicht geben. Hatten die zumeist heterosexuellen Zuschauer auf den unzähligen alkoholschwangeren Eurovisionspartys zu tief ins Glas geschaut, ohne zu wissen für wen sie da abstimmen? Ebenso nein, denn dann hätte ja die – herrlich selbstironische – polnische Titteninvasion siegen müssen. Die Wiener Kunstfigur Conchita Wurst hat gewonnen, weil sie eine Botschaft hatte. Weil ihre Stimme für eurovisionäre Verhältnisse wirklich gut war. Weil ihr Song überzeugen konnte. Weil sie auf Hamsterräder und runde Klaviere verzichtete. Weil ihre dramatischen Gesten so perfekt einstudiert waren und hohen Unterhaltungswert hatten. Und eben weil sie einen Bart trägt.

Die Wurst reckte bei der Siegerehrung in Tränen aufgelöst ihre Faust zum Dach der 60 Meter hohen B&W Hallerne. Da hatte sich einiges angestaut: Nachdem der ORF im September vergangenen Jahres ihre Direktnominierung bekanntgegeben hatte, beschimpfte der österreichische Internetmob sie pausenlos als „häßliche perverse Mißgeburt“. Die Künstlerin blieb trotz der Hetze souverän und erklärte wiederholt ihr Credo: „Einzig und allein der Mensch zählt, jeder soll sein Leben so leben dürfen, wie er es für richtig hält, solange niemand zu Schaden kommt.“ Jetzt, zwei Tage nach dem Contest, entzündet sich – auch in deutschen Foren – erneut eine Diskussion. Wie schon beim Hitzlsperger-Outing schreit die heterosexuelle Mehrheit verschreckt auf und fürchtet eine Regentschaft der Schwulen, womöglich unter der Führung der autoritären Kaiserin Conchita.

Die Diskussion belegt, das Wurstsche Plädoyer für Respekt und Toleranz ist noch nicht ganz beim Volk angekommen, denn um die explizite Diskriminierung Homosexueller geht es zwar auch – aber eben nicht nur. Und der Sieg einer Dragqueen bedeutet beileibe nicht „das Ende Europas“, wie russische Politiker heute schwadronieren, denn für ein solches sorgen dieser Tage dickköpfige Politiker in West und Ost alleine. Die Wurst: das ist kein Trash, kein Kitsch, lediglich die Bitte um Achtung für die, die anders sind als die anderen, steht im Zentrum dieses Acts – man könnte auch ganz einfach konstatieren, es geht um Individualität. Und wer ist schon freiwillig so dumm, nicht einzigartig sein zu wollen? An dieser Stelle sollte sich übrigens auch die eurovisionäre – überwiegend schwule – Gemeinschaft noch einmal fragen, ob sie Conchitas Message wirklich verstanden hat. Wie schon im Semifinale war sich das (Final-)Publikum nämlich erneut nicht zu blöd, zu pfeifen respektive zu buhen, was das Zeug hält, als die Russen das Schlagerkarussell bestiegen.

Doch es gab eine weitere Überraschung, die mich am Samstag schier ausrasten ließ und die ich der betulichen Eurovision zwar zuvor prophezeit, aber bei vollem Verstand dennoch nie erwartet hatte. Der hypnotisch einfache, fernsehtechnisch wunderschön inszenierte Beitrag der Niederländer war lange Zeit ernstzunehmender Konkurrent für Conchita im Wettstreit um die europäische Popmusikmeisterschaft und landete schlussendlich auf Rang zwei. Seitdem beherrscht „Calm after the Storm“ die paneuropäischen Singlecharts. Das üblicherweise sonst gerne inszenierte Affentheater mit Tänzern, Requisiten und artistischen Einlagen, welches häufig von abgrundschlechten Kompositionen ablenken soll, landete unter „ferner liefen“. Bei allem Trara um Gesichtsbehaarung – auch aus musikalischer Sicht (und ganz im Sinne Conchitas) ist das ein sehr versöhnlicher Abschluss des diesjährigen ESC in Kopenhagen. Noch treffendere Worte findet der Kopfkompass im „Freitag„, der sich bereits gestern äußerst feinsinnig mit dem Phänomen Wurst beschäftigte:

Entspannt euch. Seid Kinder. Spielt. Überkommt eure Hemmungen, wenigstens ein bisschen, und seid was euch gefällt. Wenn euch Haare unter den Armen wachsen oder auf den Wangen, dann ist das cool. Und wenn nicht, dann ist das auch cool. Und wenn ihr Lipgloss mögt dann tragt welchen, auch wenn ihr im Stehen pinkelt.

Foto: EBU / Andreas Putting


Sissis legitime Nachfolgerin: Conchita Wurst

conchita

Foto: EBU / Andreas Putting

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Es ist unglaublich! Österreich gewinnt den 59. Eurovision Song Contest! Was niemand mehr jemals für möglich gehalten hätte, Conchita Wurst singt „Rise like a Phoenix“ und holt nach 48 Jahren für die Alpenrepublik den Sieg mit 290 Punkten. Zweiter wird das niederländische Duo „The Common Linnets“ mit dem wundervollen  „Calm after the Storm“.

Der eurovisionaer ist – zwar nicht ganz so dolle wie die neue österreichische Kaiserin – überwältigt und noch immer siegestrunken, daher heute nur noch ein kurzer Blick auf die Wertungstafel.

split voting 2014 final
Grafik: eurovisionaer