Eurovisionäre Nachhilfe: 30. April 1988
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Dem Alter, harmonische Fernsehabende unbedingt auf der elterlichen Couch verbringen zu müssen, lange entwachsen, deutete sich 1988 so etwas wie ein Paradigmenwechsel an, hätte mal ein Wissenschaftler meine eurovisionären Gewohnheiten untersucht. In jenem Jahr wurde die ESC-Party geboren! Nun gut, noch in einem sehr kleinen, überschaubaren studentischen Kreis, jedoch mit ersten Ingredienzien wie z.B. der wandernden Kommentarliste, viel Alkohol und einer Aftershowparty, die bis in die frühen Morgenstunden reichen sollte. Sie alle wurden im Laufe der folgenden Jahre zu elementaren Bestandteilen dieser rituellen Zusammenkünfte, wenngleich die 89-er Ausgabe wegen
Liebesschmerz anhaltendem Hangover schon wieder ausfiel und in den Geschichtsbüchern der Nichtigkeiten erst 1990 als das offizielle Geburtsjahr dieser hedonistischen Tradition gelistet wird.
Aber bleiben wir beim 30. April 1988. Deutschland hatte sich wenige Wochen zuvor für ein hochnotpeinliches Mutter-Tochter-Gespann entschieden, das unbegreiflicherweise am Finaltag von den schmerzfreien britischen Buchmachern gar auf Rang drei gewettet wurde. „Lied für einen Freund“ war in sträflicher Manier das genaue Gegenteil von einem aktuellen Popsong (die Pet Shop Boys führten gerade mit „Heart“ die BBC-Charts an), schmalzig und schräg mit unerträglichem Hundeblick vorgetragen. Mehrheitlich interessierte das in Europa – aber selbst im eigenen Land – niemanden, also galt es, eigene Favoriten auszumachen. Dem Himmel sei Dank hatten wir ganz weitsichtig auf den Original-Fernsehton, über den die leibhaftige Nicole einen nöligen Kommentar absonderte, verzichtet und das TV-Bild mit der hippen BFBS-Live-Radioübertragung verkoppelt. Das garantierte zwar unter technischen Aspekten betrachtet ein optimales Stereoerlebnis, musikalisch rangierte jedoch vieles, was Europa uns da vorsetzte, auf einem ähnlich unterirdischen Level wie der bereits erwähnte deutsche Beitrag. Natürlich gab es Ausnahmen, immer dann, wenn ausgelutschte Eurovisionssongmuster gebrochen wurden: Irland, das als Vorjahressieger ja nicht mehr gewinnen musste, stellte mit „Take him home“ ein Ballade epischen Ausmaßes vor; Norwegens „For vår jord“ war ähnlich stimmungsvoll, ohne abgestanden sülzig zu wirken.
Damals schwappte übrigens populärkulturell so etwas wie eine erste Ethnowelle durch die Republik. Meine liebe Freundin Fräulein T., die gerade aus für mich unerfindlichen Gründen einen studienfachübergreifenden Kurs „Türkisch am Krankenbett“ besucht hatte, favorisierte daher den Beitrag „Sufi“ aus Ankara, der aus heutiger Sicht allerdings noch Lichtjahre von der Qualität begeisternder landestypischer Popfolklore entfernt war. Traditionalisten erfreute das israelische „Ben Adam“, das jedoch ebenfalls an ein stimmungsvolles „Hallelujah“ nicht heranreichte. Richtig in Wallung geriet die Feierrunde aber eigentlich nur bei der britischen Einsendung „Go“. Meine liebe angelsächsische Brieffreundin Miss H., ebenso eurovisionsaffin wie ich, hatte mir die Single wenige Wochen zuvor auf dem Postweg zukommen lassen, seitdem lief sie im heimischen Apartment in „heavy rotation“. Im Grunde war „Go“ der absolut krasse Gegenentwurf zu meinem sonstigen Musikgeschmack, griff aber – nicht allein des Alkohols wegen – offensichtlich eine Stimmung auf, die an jenem Abend im April kollektiv angenommen wurde. So hatten mein bester Freund Herr B. und ich uns trotz der frühen Startnummer von Scott Fitzgerald bereits eingesungen und grölten, kurz nachdem Ronnie Hazlehurst den Taktstock geschwungen hatte, laut und textsicher mit. Der Sieger war gefunden!
Leider nur fast. Beim abschließenden Voting lag plötzlich eine Kanadierin aus der Schweiz vorne, die uns zuvor nur aufgrund ihrer schrecklichen Minipli / Nase / Körperhaltung aufgefallen war. Als sie sang, wurde nämlich die BFBS-Übertragung unterbrochen, da eindringlich nach einem Sergeant Smith oder so ähnlich gefahndet wurde. Bis heute ist nicht aufgeklärt, was der Kerl eigentlich angestellt hatte, aber dem britischen Soldatenfunk war die Meldung anno dazumal nahezu drei Minuten Sendezeit wert. Von „Ne partez pas sans moi“ hatten wir also so gut wie nichts gehört und wunderten uns, dass ausgerechnet diese schäbige Frau unserem Scott gefährlich werden sollte. Und wenn die Wertung Kult ist, wie Peter Urban heutzutage nicht müde wird zu sagen, dann gilt das sicherlich für das 88-er Voting. In der letzten Punktevergabe erhielt die nordamerikanische Schweizerin schlappe sechs „Votes“, womit sie nur einen Punkt vor dem United Kingdom lag. Das is geritzt, der Scott räumt jetzt die famosen „douze Points“ ab, dachten wir – und er wohl auch. Doch Pustekuchen! Die einzig noch wertenden Jugoslawen machten damals schon auf Diva und ließen „Go“ komplett leer ausgehen. Schockschwerenot – darauf nahmen wir allesamt einen großen Schluck, lauschten dem nochmals vorgetragenen Siegertitel der erst Ewigkeiten später weltbekannten Eidgenossin mit Migrationshintergrund und schmissen schnell den Schallplattenspieler an, um todtraurig und zum Leidwesen der Nachbarn für den Rest der Nacht „Go before you break my heart once more“ zu schmettern. Ja, wir waren ein musikalisch begnadeter Haufen damals… Coverfotos: Jupiter/PRT/Carrere
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