Mailand oder Madrid? Hauptsache Italien!
Category : Artikel 2016
Neulich schiebt der eurovisionaer den Silberling mit dem 1990er Jahrgang in den DVD-Player. Das ist so eine Art Methadonprogramm, welches sich während der nachrichtenarmen ESC-Vorsaison als recht probates Mittel erweist, die Symptome des harten Song-Contest-Entzugs ein wenig abzumildern.
Eingefleischte Fans wissen: Trotz ihres Alters erfüllt die Zagreber Ausgabe immer wieder ihre beruhigende Wirkung, bietet sie doch ein für damalige Verhältnisse relativ modernes musikalisches Spektrum. Vorausgesetzt, der Zuschauer skippt die besonders übel aufstoßenden zuckersüß-pathetischen Hymnen, die den Wettbewerb seinerzeit als Folge des wenige Monate zuvor Europa euphorisierenden Mauerfalls überschwemmt hatten. Ähnlich entzückt freut sich der Blogger 25 Jahre später auf der heimischen Couch über ein Wiedersehen mit seinen eurovisionaeren Lieblingen aus Frankreich, Israel und Spanien. Letztere haben schon allein wegen der leidigen Playbackpanne ewige Berühmtheit erlangt und sind bekanntermaßen aus kaum einen ESC-Rückblick mehr wegzudenken.
Der eigentliche Skandal des Song Contests 1990 jedoch wird in allen Retrospektiven brav unterm Deckel gehalten, was gerade heutzutage, wo eifrig über die Intransparenz der EBU gestritten wird, ein wenig nachdenklich stimmt.
Das Voting ist damals am 05. Mai in vollem Gange, als Italien als 19. Jury aufgefordert wird, seine Punkte zu vergeben. Und nach einer kurzen Pause meldet sich der ein wenig schwerfällig in den Redefluss kommende Sprecher der RAI-Jury mit den Worten „Voici les résultats du jury espagnol“.
Helga, unvergessene Gastgeberin des kroatischen Fernsehens, schaut sofort verschreckt zu ihrem Co-Moderator Olivar herüber, der aber überspielt den Lapsus nicht etwa nonchalant, sondern hakt recht ungeschickt nach: „Aber das ist doch die italienische Jury, oder?“ Das Reaktionsvermögen des offensichtlich alkoholisierten Jurysprechers scheint mittlerweile jedoch komplett außer Kraft gesetzt zu sein, er wertet munter weiter, bis schließlich Frank Naef, Offizieller der EBU, ihn auffordert, einfach von vorne zu beginnen. Das tut er prompt und entschuldigt sich lapidar mit einem „technischen Problem“. Was folgt ist eine eigentümliche Wertung, während der der spätere Sieger Italien für seine direkten Konkurrenten Frankreich und Irland keinen einzigen Punkt rausrückt.
Der Vorfall wird danach nie wieder thematisiert. Lediglich in einigen Fanforen (Link zwischenzeitlich entfernt) raufen sich seitdem eurovisionäre Verschörungstheoretiker zusammen, die behaupten, Italien habe für den Contest gar keine Jury abgestellt (was einen nicht sonderlich verwundert, denkt man wiederum an die Organisation des Folgewettbewerbs 1991 in Rom zurück). Infolgedessen habe die EBU gemeinsam mit dem verantwortlichen jugoslawischen Sender JRT mir nichts dir nichts beschlossen, eine Handvoll Zagreber Studenten in einem Nebenraum mit vornehmlich dalmatinischem Rotwein zu bewirten und einfach als italienische Jury auszugeben. Dass diese dann unter steigendem Pegel bald nicht mehr gewusst habe, ob sie nun aus Italien oder Spanien komme – kann passieren.
Eins ist klar: Von der sturen EBU werden wir wohl nie erfahren, was da genau gelaufen ist. Statt dessen können wir von Glück reden, dass der Wettbewerb 1990 nicht so ein enges Rennen war wie noch zwei Jahre zuvor in Dublin. Um allerdings den ESC-Rausch ohne Katerstimmung zu genießen, sollten wir uns besser nicht fragen, wie viele Schaltungen es damals noch in irgendwelche Hinterzimmer der Lisinski-Halle gab.