Finnland im Disco-Rausch

Finnland im Disco-Rausch

Sandhja | Sing it away

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Das musste ja schief gehen! Denn mal wieder sorgte das finnische Vorentscheidungskonzept, das diesjährig in einer tief verschneiten Nacht in vermutlich alkohollauniger Redakteursrunde entstanden sein muss, für einigen Unmut in der stets leidenschaftlichen, aber kritischen ESC-Expertenschaft. Schließlich war nicht nur die Zusammensetzung der Jury, bestehend aus putzigen Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Straßenbauarbeitern, Parlamentariern, LGBT-Vertretern und Kindern, Stein des Anstosses – erst recht deren folgenschweres Votum ließ die Fangemeinde in lautes Kreischen verfallen. Verhinderte doch die Wertung der Juroren den Sieg ihrer Lieblinge Saara Aalto und Mikael Saari und – Schockschwerenot! –  beförderte sie statt dessen die retrovisionäre Lisa-Stansfield-Gedächtnis-Nummer der Sängerin Sandhja auf direktem Weg nach Stockholm.

So spielt das Leben, denkt sich der als Disco-Trulla verrufene eurovisionaer und versteht die ganze Aufregung nicht so ganz. Denn der Song, der in jeder schwedischen Mello-Zwischenrunde abgefeiert worden wäre, ist gar nicht so schlecht, wie ihn jetzt alle machen. Etwas blass und langweilig dagegen bleibt die Interpretin: Sandhja, Tochter eines Finnen und einer guyanisch-indischen Mutter, fehlt die nötige Prise Pfeffer im Arsch, um den temporeichen Beitrag einigermaßen gut zu verkaufen. Doch Gott sei dank verfügt sie über vier aufgedrehte Backingsinger, die das Personalitymanko höchstwahrscheinlich auch auf internationaler Bühne hervorragend wett machen und den wirklich beklagenswerten Grusel des Vorjahres vergessen lassen werden.

Bestes Mal: Lordi | Hard Rock Hallelujah

Letztes Mal: Pertti Kurikan Nimipäivät | Aina mun pitää


Brot und Spiele

Kaum is dieses Ding mit der australischen ESC-Teilnahme verdaut, lauert der nächste Aufreger in der Pipeline, der die Schlager-Grand-Prix-Welt von den Füßen holt. Finnland entschied sich letzten Samstag weder für die recht hochnäsigen Gitarrenhipster noch die kreischende Operndiva, sondern für die Punkband „Pertti Kurikan Nimipäivät“. Doch deren 85-Sekünder „Aina mun pitää“, der es sich so gar nicht gemütlich machen will in den eurovisionären Gehörgängen, sorgt nicht allein für verstörte Seelen. Zusätzliche Unruhe bereitet der Umstand, dass alle vier Finnen behindert sind: Down Syndrom (Trisomie 21), Williams- Syndrom, MBD und Intelligenzschwäche – dies ist das Diagnosespektrum der Bandmitglieder.

Prompt fragen sich besorgte Geister: Werden die nicht nur von infamen, geldgierigen Managern vorgeführt? Ist es fair, bei einem Gesangswettbewerb eine Behinderung medial auszuschlachten und zum eigenen Vorteil umzumünzen? Sahnen die letzten Endes tonnenweise Mitleidspunkte ab? Hat das selbst schon in die Jahre gekommene Genre Punk beim ESC überhaupt was zu suchen? Und muss nicht wenigstens der viel zu kurze Song auf eurovisionskonforme drei Minuten getrimmt werden?

Wer sich einigermaßen in der Historie des Song-Contests auskennt, wird um die unzähligen Gestalten wissen, die nach Ruhm gierten und sich dabei vor ganz Europa zum Affen machten. Während die helleren Lichter wussten: Längst reicht es nicht mehr, ein ordentliches Lied vorzutragen, um den Sieg davon zu tragen. ABBA setzen auf Glitterkostüme, Ruslana auf ne wilde Choreo und bei Conchita war es halt der Bart. Selbstverständlich ging es stets um Medienpräsenz, die – wenn nicht skandalisieren – so doch für Aufmerksamkeit sorgen sollte, damit der Kommentator am Abend in seinen Überleitungen für die Zuschauer an den Bildschirmen was zu erzählen hatte. Wer also allen Ernstes weiterhin glaubt, der ESC sei ein reiner Gesangswettbewerb, der ist schon seit Jahrzehnten auf der falschen Veranstaltung. Und damit zurück zu den Finnen: Mit welchem Recht sollten Behinderte respektive ein Punksong im Sinne gleichberechtigter Teilhabe von diesem Wahnsinn, den wir so lieben, ausgeschlossen werden?

Immer noch wird gerätselt, ob Frau Wurst auch ohne Gesichtsbehaarung gewonnen hätte. Pure Zeitverschwendung, denn solche Gedankenspielchen bringen rein gar nichts. Vielmehr wagt der eurovisionaer die kesse These, dass niemals der Song oder die Kampagne allein den bierseeligen Televoter – wahlweise den nüchternen Juror – dazu verleitet, für einen Beitrag zu stimmen. Es ist ein alberner Tanzschritt, das tolle Kleid, die atemberaubende Kamerafahrt, die Biografie des Interpreten und, und, und – eben das richtige Lied.

Es bleibt abzuwarten (und auszuhalten), ob die Band aus Finnland ein solches Gesamtpaket auf die Wiener Bühne bringen wird. Ach, und wer einen schnellen Blick auf die hauseigene Playlist der Saison wirft, der ahnt – dem eurovisionaer gefällt der PKN-Song nun gar nicht und er ist froh über dessen Kürze. So what? Berechnung? Weitaus schmerzhaftere, weil hinterfotziger kalkulierte Auswüchse von Stimmenfang bleiben da in Erinnerung, nehmen wir mal nur die udmurtischen Babuschkis oder die unzähligen Siegelschen Friedensprediger.

Formulieren wir es doch einfach positiv: Wie schön, dass auf dem für seine grenzenlose Exaltiertheit bekannten Planeten Eurovision endlich auch ein störrischer Punksong Gehör findet. Und dass seine regenbogenfarbenen Bewohner nun andere bunte Vögel kennenlernen werden. Schließlich haben sie erst vergangenes Jahr ihre Toleranzprüfung mit Summa cum laude bestanden. 2015 müssen sie sich halt einer erneuten Belastungsprobe stellen. In Akzeptanz.


Der eurovisionaer empfiehlt…

Endlich! Lang genug genöggelt hat er ja, der Chef des Hauses, über die fürchterliche Amber aus Malta und so manch andere Katastrophen, die uns in dieser Saison schon früh um die Ohren gehauen wurden. Und wie wir uns ja auch im Alltag hin und wieder selbst im Weg stehen, wollte es mit solch negativ-sturer Einstellung auch nichts so recht werden – mit der zu dieser Zeit sonst allmählich hochkochenden Eurovisionsbegeisterung.

Doch nun ist alles wieder gut. Der eurovisionaer hat sich durch die Einreichungen seiner Lieblingsvorentscheidungen gehört und – so mancher mag jetzt erleichtert aufatmen und den Blick nur kurz, aber theatralisch gen Himmel richten – wirklich hammerfette Songs für 2015 aufgetan (die erste Playlist wird also nicht lange auf sich warten lassen).

Natürlich fangen wir bei dem seit zwei, drei Jahren (ach Winny Puh!) nicht mehr heimlichen Fave aller National Finals an, dem fantastischen Eesti Laul! Was die Esten Jahr für Jahr aus den Tonstudios zaubern, ist einfach grandios. Und das nicht allein qualitativ, sondern auch quantitativ, denn von den 20 Einreichungen sind mehr als ein Drittel der Beiträge ganz einfach „Ear-Candy“.  Absoluter Eesti-Traum jedoch ist „Goodbye to Yesterday“, eine kleine, lässig-verknautschte, Trilliarden Pheromone ausspuckende Melodie von Elina Born im Duett mit dem wunderbaren Stig Rästa. Der hat dem eurovsionaer schon in der legendären Düsseldorfer Saison, also 2011, mit seiner Band Outloudz alle Hörsinne geraubt – damals reichte es in der Heimat jedoch nur für den ernüchternden zweiten Platz. 2015 könnte das anders werden, denn die Netzgemeinde ist ähnlich euphorisch und sieht in dem Duo schon Parallelen zu den fantastischen Common Linnets. Mir doch egal, denkt sich der eurovisionaer und genießt…

Auch Ungarn ist seit der Entsendung des nerdigen ESC-Gegenentwurfs Bye Alex (Malmö 2013) auf dem richtigen Weg, im Kontext der Eurovision neue, weil unerwartete Töne zu treffen. Und das kann man ja nicht gerade von wirklich vielen Song-Contest-Teilnehmern behaupten! Zwar ist das „A Dal 15“ etwas unprätentiöser als im vergangenen Jahr, fokussiert dazu möglicherweise ein wenig zu sehr auf die Rückkehr der unverwüstlichen Wolf-Kati, dennoch – auch in Budapest gibt es alljährlich mindestens einen Song, der es in die Jahresplaylist des Hausbloggers schafft. 2015 ist das „Mesmerize“ von der vermutlich eher independenten Band „Passed“. Bei allem todtraurigen Kleinmädchengitarrengeklimper oder vordergründig übercoolen Oberstufenprobenkellernachwuchsbands, die sich augenblicklich in der offenen deutschen Videovorauswahl zum ESC tummeln, sind diese Ungarn übrigens die Sahne auf dem Kuchen, den wir hierzulande wohl niemals probieren dürfen.

Schlusslicht in dieser kleinen Vorschau ist Siru aus Finnland. Dort wird in Kürze recht pompös das „Festival der neuen Musik“ (UMK) zur Auswahl des für die Eurovision geeigneten Liedgutes veranstaltet. Dummerweise wurden vor dem eigentlich angedachten Stichtag zwischenzeitlich einige Songs ins Netz gestellt, was den zuständigen Praktikanten von YLE wahrscheinlich auf immer und ewig um alle Karrierechancen in den Medien bringen wird. Egal, „Mustelmat“, was auf Deutsch – igitt! – angeblich Blutergüsse heißen soll, ist einer der geleakten Songs, der die Vorfreude auf das restliche Starterfeld enorm steigert, auch wenn er vorerst leider wieder offline, dafür aber gar nicht ekelig ist.

Schade nur, dass letztendlich dann doch wieder irgendwelche verknöcherten Jurys oder schlagerseeligen Televoter jeden der eurovisionaeren Favoriten ins Nirwana, aber niemals nach Wien schicken werden. Seufz!


Softengine für Finnland

2011 haben die Finnen ihr traditionelles „Euroviisut“ über Bord geschmissen das „Uuden Musiikin Kilpailu“, kurz UMK, ins Leben gerufen, um alternde Schlagerstars und Tangotanzende Diven ein für alle Mal los zu werden. Das Format richtete sich fortan ausschließlich an junge Musiker, erwartet wurden neue Impulse für die finnische Musikszene. Rein qualitativ hat das auch in diesem Jahr funktioniert, denn die ersten Drei des Finales beschritten durchaus neue Eurovisionspfade. Sieger wurde die junge Band Softengine, deren Song „Something better“ ein wenig an die Neunziger-Ikonen Fury in the Slaughterhouse erinnert und dem ganz gute Chance in Kopenhagen eingeräumt werden. Problematisch ist jedoch der massive Zuschauerverlust, den das Festival zu verzeichnen hat. Innerhalb weniger Jahre halbierte sich die Quote, so dass die finnischen TV-Macher an eine Rückkehr zum Altbewährten denken und wir uns schon einmal mit einer erneuten Teilnahme von Katri Helena in 2015 anfreunden sollten.