Das Volk wählt seinen neuen König

Das Volk wählt seinen neuen König

Dass uns demokratisch getroffene Entscheidungen zuweilen an den Rand des Wahnsinns bringen können, erleben wir seit geraumer Zeit im politischen Europa. Täglich neue Überschriften zur Brexit-Debatte erinnern an jenen, bis heute nachwirkenden Tag im Juni 2016, an dem die Demokratie wahrlich keine ihrer sonst sprichwörtlichen Sternstunden erleben durfte.

Eine Nummer kleiner – auf unseren Lieblingsschlagerwettbewerb bezogen – machen dieser Tage ebenfalls Volksabstimmungen, hier ganz geschmeidig Televoting genannt, von sich reden. Vergangenen Samstag suchte beispielsweise Frankreich seinen Beitrag zum ESC in Tel Aviv und bediente sich dabei einer bislang bewährten Entscheidungsform. Zur einen Hälfte sollten europäische Experten, zur anderen die gemeine Fernsehzuschauerschaft ihr Votum abgeben.

Ähnlich wird mittlerweile auch beim großen internationalen Finale verfahren, nachdem noch in der ersten Dekade der 2000er Jahre direkte Demokratie erprobt wurde. Damals durfte ausschließlich der Zuschauer bestimmen, welcher Beitrag als das beste Lied des Abends prämiert werden sollte. Problem nur: von dieser Form der Basisdemokratie machten hauptsächlich – und nicht uneigennützig – die Osteuropäer Gebrauch, während das alte, westliche Europa ob der Ergebnisse murrte. Noch schlimmer waren eurovisionäre Entscheidungsprozesse im vergangenen Jahrtausend. Bis 1997 entschieden unter Ausschluss der Öffentlichkeit einzig und allein irgendwelche Juroren über das Wohlergehen des kontinentalen Schlagers – politikwissenschaftlich am ehesten unter dem Begriff Demarchie geläufig und aus heutiger Sicht ein Skandal.

Zurück nach Frankreich. Kurz nach 23 Uhr wurden dort die Einschätzungen der ESC-Promis aus allen Herren Länder abgefragt, als das Unheil auch schon seinen Lauf nahm. Ignorierten die Experten doch nahezu allesamt den Liebling des Volkes, Bilal Hassani, eine neunzehnjährige, offen schwule Youtube-Ikone marokkanischer Abstammung, dessen Beitrag „Roi“ ein mittlerweile eigentlich ausgelutschtes LGBT-Selbstverständnis mit allem landläufigen Pomp und Pathos garniert in Szene setzte. Noch schlimmer: Die Juroren präferierten ausgerechnet die ganz und gar unscheinbare Seemone, die wiederum ein Chanson der alten Schule vortrug und es konsequenterweise ihrem Vater widmete.

Kurz vor der finalen Publikumsabstimmung sah es für Bilal hoffnungslos aus, doch dann bewies der, wie sich heutzutage dank Sozialer Medien Stimmvieh mobilisieren lässt. Und während die aufgepeitschte Zuschauerschaft im Pariser Studio ihrer Anspannung nur noch durch wechselweises Kreischen, Stöhnen oder Pfeifen Herr werden konnte, donnerten die Ergebnisse an die Anzeigetafel. Bilal rauschte an allen Konkurrenten vorbei und ließ sich standesgemäß gerührt, aber in der Sache unbeirrt als verdienter Sieger feiern.

Prompt entbrannte nicht nur unter ESC-Fans eine mehr als aufgeladene Diskussion darüber, ob das Ergebnis überhaupt demokratisch legitimiert sei, habe doch Bilals heimische Followerschaft mittels Powervoting die Expertise der internationalen Fachleute ad absurdum geführt. Interessanterweise wird dabei unterschlagen, dass diese keinesfalls als Vorsitzende einzelner Gremien, sondern in Folge irgendeines Hinterzimmerdeals mit TV2 als Max Mustermann und Lieschen Müller nur nach eigenem Gutdünken abstimmten.

Viel Aufregung um nichts. Andererseits könnte man sich fragen, ob hier ein allzu schriller Vertreter der LGBT-Community verhindert werden sollte. Erst recht, nachdem im Anschluss an die samstägliche Entscheidung ein homophober Mob im Netz aufs übelste gegen den Sänger wettert. Der geht nun gegen die Drohungen juristisch vor und dürfte in einer stillen Stunde als neuer König von Frankreich über die unseligen Netzgeister, die er rief, sinnieren.

Foto: euovision.tv / Low Wood

Fröhliche Franzosen

Amir | J’ai cherché

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Es tut sich was im Land der Gallier! Erst darf der Song Contest in der nationalen TV-Hierarchie vom ungeliebten dritten Kanal zu France 2 aufsteigen, dann wird der von allen Fanboys des Kontinents angehimmelte Edoardo Grassi zum neuen Delegationsleiter bestimmt. Und prompt angelt der sich den smarten Amir Haddad für den Song Contest 2016!

Vorbei mit dem ewigen Genöle über langweilige Interpreten und chancenlose Beiträge des Big-Five-Kandidaten, denn  – Allez-hop! – plötzlich gehört der französische Beitrag “J’ai cherché” (selbst für den ständig meckernden eurovisionaer) zum engeren Favoritenkreis in Stockholm. Bleibt nur noch zu hoffen, dass der schöne Herr Haddad es live nicht versemmelt, denn dann könnte er nach langen vierzig Jahren endlich die auch heute noch wunderbare Marie Myriam beerben.

Bravo, Monsieur Grassi, wir freuen uns auf Nizza 2017!

Bestes Mal: Marie Myriam| L’Oiseau et l’Enfant

Letztes Mal: Lisa Angell | N’oubliez pas


La France n’oublie pas…

…wie oft ein klassisches Chanson in der Vergangenheit den Eurovision Song Contest dominierte. Leider war das zu einer Zeit, als der Wettbewerb noch als Grand Prix d’Eurovision de la Chanson etikettiert wurde – also vor gefühlten 30 Jahren. 2015 wollen die Franzosen diese Erfolgsformel zu neuem Leben erwecken, denn sie nominierten heute die 46jährige Sängerin Lisa Angell mit dem Beitrag „N’oubliez pas“ für Wien.

Auch, wenn diese eine zweifelsohne formidable Stimme besitzt, wird man beim Hören des ersten Soundschnipsels das Gefühl nicht los, dass Madame Angell vermutlich nicht die erste Wahl des zuständigen TV-Senders France 2 war, so innig sie auch kürzlich den ESC-Klassiker „L’Oiseau et l’Enfant“ in irgendeinem obskuren Vorstadtetablissement intonierte. Eher in der Schublade „Variété française“ verortet, noch dazu mit einer gewissen Ähnlichkeit zu unserer Kanzlerin gesegnet, erscheint sie wie ein krasser Gegenentwurf zu den letztjährigen Teilnehmern TwinTwin. Die kamen in Kopenhagen zwar halbwegs zeitgemäß daher, fuhren dann aber doch mit nur zwei Punkten als Schlusslicht nach Hause. Konsequenterweise ist jetzt das Unscheinbare offenbar das Risiko, das man in Paris anno 2015 eingehen und so an traditionelle Festivalerfolge anknüpfen möchte. Nun gut, selbst das Hausbackene kann zu Zeiten bärtiger Siegerinnen immer mal wieder für eine solide Platzierung im Mittelfeld sorgen. Aber der große Coup, oder gar Sieg, den der eurovisionaer – aus einem unspezifischen Bauchgefühl heraus – den Franzosen für dieses Jahr prognostiziert hatte, scheint unter diesen Vorzeichen wohl mehr als unwahrscheinlich. Tant pis!

Übrigens, die Ballade „N’oubliez pas“, die im Mai nach Österreich geschickt wird, stammt von Robert Goldman. Er ist leider kein so begnadeter Komponist wie sein Bruder – und vom Blogger sehr verehrten – Jean-Jacques, verhalf aber immerhin Natasha Saint-Pier zu einem respektablen vierten Platz beim Song Contest 2001 mit „Je n’ai que mon Ame“. Bis heute ist das die beste Platzierung der Grande Nation innerhalb der letzten 20 Jahre.

Update: Mittlerweile gibts den kompletten Song.


Was zwischenzeitlich geschah…

Kaum is man maln paar Tage nich zu Hause, schon bricht die ganze eurovisionäre Welt zusammen… Holen wir also schnell nach, was in den vergangenen fünf Tagen passiert ist. Die Litauer hatten dieses Jahr so viel Spaß an ihrem Vorentscheid “Eurovizijos”, dass sie ihre Sendereihe kurzerhand bis in den März verlängerten. Glück für uns, aber leider muss wegen der EBU-Regularien dann doch irgendwann im März Schluss sein, vermutlich werden die Balten aufgrund dieser Erfahrung ihre Vorauswahl in der kommenden Saison bereits im August beginnen. In 2014 jedoch hat die komplizierteste aller europäischen Vorentscheidungen endlich ihr Ende gefunden: Nachdem bereits in der vergangenen Woche ein Lied für Kopenhagen gefunden wurde, musste nun lediglich ein/e passende/r Sänger/in dazugelost werden. „Attention“ rufen uns deshalb die Litauer entgegen… Das hat zwar keine Wirkung – weder jetzt noch in acht Wochen – aber immerhin darf sich die Songwriterin Vilija Mataciunaite freuen, ihren eigenen Beitrag in Dänemark singen zu dürfen.

Die indielastigste und damit so gut wie beste Vorentscheidung auf dem Kontinent liefern seit Jahren die Esten ab. Nie, nie, nie werden allerdings die schrägsten “Eesti Laul”-Beiträge in ein europäisches Finale geschickt – man erinnere sich nur zuletzt an das Drama um Winny Puuh, die ausgerechnet gegen Birgit Oigemeel den Kürzeren zogen – aber sie sorgen für eine bunte Konkurrenz ohne Fremdschämfaktor. So hat auch 2014 die Jury um Maarja-Liis Ilus eine vorzügliche Auswahl getroffen, die jedoch erneut in Grund und Boden gestampft wurde. Letztlich trauten sich die Balten mal wieder nicht, Europa mit ihrem eurovisionsuntypischen Geschmack zu überraschen… Statt dessen erleben wir nun hochoffiziell eine bis auf den letzten Tanzschritt äußerst peinliche Loreen-Kopie, auf die Europa definitiv nicht gewartet hat. An den Regularien des 2015-Esti-Lauls sollte also jetzt wirklich mal kräftig geschraubt werden…

Ovi & Paula Seling, die zuletzt 2010 mit dem Feuer spielten, wurden als heißer Favorit für die diesjährige rumänische Vorentscheidung gewettet. So heiß, dass Insider im Vorfeld schon von möglicher Schiebung munkelten, Künstler und Sender TVR hätten zuvor im stillen Kämmerchen lange verhandelt. Fakt ist, das von ihnen eingesandte Werk “Miracle” schaffte es dank der heimischen Jury tatsächlich bis auf Platz 1 der Vorauswahl, sicherlich mithilfe des Oslo-Guthabens, wo sie 2010 eine sehr gute Figur gemacht hatten. Dumm, dumm, dumm, denn aus lauter Sicherheitsdenken ging den Rumänen so vier Jahre später – also heute – ein nahezu todsicherer Song Contest-Sieg mit Anca Florescu komplett durch die Lappen.

Der französische Sender FR3 hatte nach Jahren der – letztlich erfolglosen – Direktnomminierung halbwegs bekannter Stars erstmals seit 2007 wieder eine öffentliche Vorauswahl mit sage und schreibe drei Interpreten / Titeln ausgerichtet. Die Glücklichen waren Joanna, TwinTwin und die Band Destan, allesamt eher kleine Nummern in der französischen Szene. Dementsprechend lang war die Frist, innerhalb derer sich die Franzosen entscheiden durften. Dass sie sich letztlich für den recht modernen Song „Moustache“ ausgesprochen haben, überrascht ob seiner Ähnlichkeit zum aktuellen Stromae-Charterfolg „Papaoutai“ nicht wirklich, ist aber noch lange keine Erfolgsgarantie für Kopenhagen. (Angemerkt sei, dass eine öffentliche Vorentscheidungsprozedur unseren Nachbarn in der Vergangenheit eigentlich nie wirklich gut getan hat – man denke nur an die unsägliche Frau mit dem Giraffenhals 1999- daher träumen wir weiterhin von der Rückkehr der unvergessenen Marie-France-Brier, die Anfang der Neunziger eine Spürnase für diktatorische eurovisionäre Erfolge hatte).

Apropos, back-to-the-nienties, als Länder wie Israel und das Vereinigte Königreich noch Erfolge feiern durften: 2014 scheint zumindest eines der beiden wieder auf der Erfolgspur gelandet zu sein, denn Mei Finegold darf tatsächlich das von uns favorisierte „Same Hearts“ in Dänemark singen und könnte mit einer überzeugenden Performance dort endlich mal wieder für Furore sorgen. Die immerhin junge (!!!) Britin Molly Smitten-Downes hat dagegen das Handicap gleich mit zwei Songs anreisen zu müssen: „Children of the Universe / Power to the People“ ist im direkten Vergleich zu Bonnie und Engelbert sicherlich ein größerer Wurf als der der Vorjahre, international überzeugt das Liedgut aus dem Mutterland der Popmusik jedoch ob seiner Unentschlossenheit leider nicht. Waren das noch Zeiten, als lediglich die Power der Friends eingefordert wurde. Schade.


Eurovisionäres Gemunkel

Während der zuständige TV-Sender TROS sich erst am 25.11. offiziell äußern möchte, erzählt man einander in den Niederlanden, dass die dort seit 1998 mit Gold- und Platinauszeichnungen überhäufte Sängerin Ilse DeLange 2014 für ihr Heimatland an den Start gehen wolle. Das wäre keine schlechte Wahl, denn die Kandidatin hält weit mehr als ihr drolliger Name verspricht. Pikanterweise wird übrigens auch getratscht, dass Frau Delange und die letztjährige Vertreterin, die göttliche Anouk, keine Gelegenheit auslassen, sich wie die selige Krystle Carrington und die krawallbürstige Alexis Colby zu benehmen. Nun, einen ausgeprägten Sinn für Dramatik scheinen die Holländer schon zu haben. Doch bevor sich dieser Beitrag wie das Goldene Blatt liest, warten wir besser das Ende des Monats ab. Vielleicht ist ja einfach nur die Fantasie mit unseren Nachbarn durchgegangen.

Auch in Frankreich kursieren Gerüchte. Angeblich will FR3 nach Jahren der – letztlich erfolglosen – Direktnominierung halbwegs bekannter Stars nun erstmals seit 2007 wieder eine öffentliche Vorauswahl mit sage und schreibe drei Titeln ausrichten. Sollte sich die Meldung bestätigen, bin ich sicher, dass dieses Verfahren lediglich mehr oder minder talentierte Hoffnungsträger anziehen wird (siehe Schweiz). Und solch eine Vorentscheidungsprozedur hat den Franzosen in der Vergangenheit eigentlich nie wirklich gut getan (man denke nur an die unsägliche Frau mit dem Giraffenhals 1999). Nach dem ganz großen Wurf, der dringend nötig wäre, um so etwas wie französische Eurovisionsbegeisterung zu schüren, hört sich das jedenfalls nicht an.


Ein Lied für Malmö: Update

Was bisher geschah: Anke Engelke, unser aller Liebling, moderiert am 14. Februar die deutsche Vorentscheidung; Frankreich, Armenien und Zypern lassen diese zwar mehr oder weniger ausfallen, haben sich aber immerhin bereits auf eine/n Vertreter/in geeinigt; die Schweizer Heilsarmee gibt ihren Namen auf und fährt endgültig nach Malmö; die Schweden werden am kommenden Montag offiziell Sarah Dawn Finer als Präsentatorin präsentieren; Alexander Rybak ist vollends verzweifelt und nimmt als Komponist an der norwegischen Vorentscheidung teil… und und und! Die Saison nimmt merklich an Fahrt auf, denn bis auf die britischen Europaskeptiker wenige Ausnahmen stecken alle TV-Sender knüppeltief in ihren eurovisionären Vorbereitungen. Wir geben zurück ins Funkhaus!