Was darf Johnny Depp, was Conchita Wurst nicht darf?

Was darf Johnny Depp, was Conchita Wurst nicht darf?

…fragt sich dieser Tage das Fräulein Sichtermann. Nicht schon wieder in der eurovisionaeren Küche, sondern am Rande eines eher eintönigen WM-Spiels – dort genehmigten sich die beiden beim mittlerweile so populären Rudelgucken unter freiem Himmel einige Bierchen – und plapperten sich in kurzer Zeit vom Pilgerfahren über den Schlagerzahnarzt hin zur wundervollen Conchita. Der höchsten Song-Contest-Weihe zum Trotz schlägt sich diese nämlich weiterhin mit der vordergründig aufrichtigen, letztlich jedoch hinterfotzigen Volksmeinung tapfer und niemals müde werdend herum. Grund genug also, das Fräulein Sichtermann um Hilfe einen Gastbeitrag zu diesem Thema bitten, für den sich der Chef sehr herzlich bedanken möchte. Und alle anderen eurovisionaere hoffentlich auch!

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Was darf Johnny Depp, was Conchita Wurst nicht darf?

Als Johnny Depp seine Cross-Gender-Performance als Captain Jack Sparrow in Fluch der Karibik ablieferte, war nicht nur das Feuilleton begeistert. Auch die Besucherzahlen an der Kinokasse gaben ihm Recht. Jack Sparrow, Verzeihung, Captain Jack Sparrow, kultivierte den Machismo des von seiner Selbstverliebtheit besessenen Egomanen mit einer androgynen Attitüde, die nicht selten in Selbstironie umschlug und gerade deshalb die Karikatur und die Rollenklischees vermied.

Ein anderes Beispiel gefällig? David Beckham war einst ein begabter Fußballer, von dem nicht weiter zu handeln wäre, hätte er nicht irgendwann Posh Spice kennen gelernt, die sich fortan als Victoria Beckham neu erfinden sollte. Sie lehrte ihn die Kunst der Mode, die alles, was bis dahin wichtig war, zumindest im Leben eines Fußballers, in den Schatten stellen sollte. Mit ihm war die Metrosexualität geboren, die als neuer Hype das noch junge Millenium beflügeln sollte. Wen kümmerte es, dass David Beckham nicht länger zum Spielgeschehen beitragen konnte, solange nicht ein fähiger Stylist seine Haare in jeder Pause wieder in Form bringen sollte. Schwitzen, keulen, wie weiland Hans-Peter Briegel mit seiner Prolo-Dauerwelle, war nicht sein Ding und so erfreut sich die Gelfrisur noch heute in der Amateurliga ebenso große Beliebtheit wie das Haarband bei den Fußballern, die die gepflegte Matte bevorzugen.

Spätestens seit die Modemacher androgyne Männermodels auf den Laufsteg schicken, um, ja, Frauenkleider zu präsentieren, sollte klar geworden sein, dass sich einiges getan hat: Gender is an illusion. Nun ja, nicht ganz: Es betrifft wohl nur die Ebene der optischen Oberflächen, dahinter, noch immer, waschechte Homophobie. Das Fräulein, ganz arglos zum ersten Mal beim Eurovisionsfinale mit Conchita Wurst konfrontiert, fragt sich noch immer, was genau den Sturm der Entrüstung um diesen Travestiekünstler ausgelöst haben mag, der mit Entgleisungen einher ging, die zu beleidigend sind, um hier wiederholt zu werden.

Das Spiel des Androgynen beruht stets auf dem Schein. Und solange alles ein Spiel bleibt, eine Rolle in einem Film, ein Habitus in einem Trend, applaudiert man gern. Was für eine Bigotterie. Wenn sich jemand dem Spiel der Maskeraden verweigert, weil er die eindeutige Geschlechterzuschreibung selbst in der Illusion durchbricht, das Männliche im Weiblichen und das Weibliche im Männlichen offen zeigt, dann kehrt er die Regeln des Spiels nicht nur um. Er stellt das Spiel selbst in Frage. Genau das scheint Conchita Wurst so unbehaglich zu machen. Hier nimmt sich jemand das Recht, das Konzept des Transgender nicht als Attitüde, sondern als Leben zu leben und dessen Widersprüchlichkeiten auszuhalten. Der Österreicher, der Wiener zumal, könnte einmal an Sigmund Freud denken, der schon wusste: Das Gegenteil von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit. Und jeder, der mit dem Spiel der Figur und der Wirklichkeit des Künstlers nicht umgehen kann, ist eine verdammt armselige und ängstliche Wurst.

(Das Fräulein Sichtermann sieht fern und denkt hier regelmäßig über die Naturgesetze im Kosmos der Seifenoper nach.)

Foto: julianlaidig.com

The bad old Days

hammersichelKlassische Form von Überreaktion! Um vor dem Fernseher sitzenden Kindern nicht mehr erklären zu müssen, warum da eine Frau mit Bart singt, machen die Russen nun die Rolle rückwärts. Igor Matvienko, Moskauer TV-Produzent, plant angeblich für Oktober dieses Jahres die Wiederbelebung des Intervision Song Contest. Dieser galt zu Zeiten des Kalten Krieges als die sozialistische Antwort auf die Eurovision und wurde von 1977 bis 1980 alljährlich im polnischen Sopot ausgetragen. Eine Reaktivierung dieses Politikums wäre ein ähnlich deutliches Signal an die EBU wie das der Türken, die durch den ESC bereits lange vor Conchita ihre eigenen kulturellen Werte verletzt sahen und kurzerhand im Dezember 2013 eine Türkvizyon veranstalteten.

Homophobe aller Länder vereinigt euch, könnte man rufen, denn nun sind auch alle ehemaligen Staaten der UdSSR herzlich eingeladen, an einem weiteren reaktionären Wettsingen teilzunehmen. Und damit es auch der letzte Depp versteht, soll die russische Vorentscheidung gleich im Juni auf der Krim abgehalten werden. Zugelassen sind aber wahrscheinlich nur glatt rasierte Künstler.

Ob Matvienko mit seiner Idee durchkommt, wird sich also in den nächsten Wochen zeigen, einer breiten Unterstützung durch Politik und Gesellschaft darf er sich wohl sicher sein. Für den Eurovision Song Contest, dessen Grundgedanke auf der  Zusammenführung unterschiedlicher europäischer Kulturen basiert, wäre es eine fatale Entwicklung.


Da war doch noch was… Der ESC und die große Politik

Schande! Nein, nicht, weil Valentina im dritten Anlauf das Finale gepackt hat… Viel hinterfotziger nach Meinung des eurovisionaers das Verhalten zahlreicher Fans, als Dienstagabend in der B&W Hallerne der russische Finaleinzug bekannt gegeben wurde. Gleich ein kakophonisches Konzert von Buhrufen schallte durch die Kopenhagener Arena, denn offensichtlich wurde dieses Halbfinalergebnis in Fankreisen so gar nicht goutiert. Man mag ja auch streiten, ob die Zopf-Nummer auf der Wippe wirklich so funky war – das hätte man sich aber bei mindestens acht anderen Beiträgen ebenso fragen können. Ganz eindeutig ging es den Miesmachern nicht um musikalische Kriterien, sondern um handfeste Politik. Der seit Wochen Europa beherrschende Ukraine-Konflikt zog damit auch in die heile Eurovisionswelt ein.

Nun könnte man sagen, wen verwundert’s, wenn doch die Propagandamaschinerie der westlichen ebenso wie östlichen Medien und Regierungen seit Wochen auf Hochtouren läuft? Muss eine solch penetrante Gehirnwäsche nicht nahezu automatisch in Buhrufen münden, die dann im Rahmen einer Live-Unterhaltungssendung quer über den Kontinent ausgestrahlt werden? Die das Ideal von Völkerverständigung und friedlichem Miteinander bei einem harmlosen Gesangswettbewerb konterkarieren? Doch warum gibt sich der gemeine Eurovisionsfan, dessen Leidenschaft doch eher die große Geste oder schicke Abendroben sind, plötzlich vordergründig so politisiert?

2009, als während des Festvials auf Moskaus Straßen eine Schwulenparade gewaltsam aufgelöst wurde, waren viele konsequenterweise einfach zu Hause geblieben, die anderen jedoch feierten sich durch rauschende Euroclubpartys und schwärmten von der russischen Gigantomanie des Song Contests. Letztes Jahr in Malmö, als Putin gerade einen weiteren Stapel Anti-Homosexuellen-Gesetze erließ, schwärmte die Community von den Friedensbotschaften der russischen Sängerin Dina Garipova.

Heute, 2014, leisten die Medien ganze Arbeit, wenn es darum geht, Agitation zu betreiben. Natürlich mag es zweifellos genügend Gründe geben, Russlands Haltung in der Ukraine-Krise zu kritisieren. Doch in der Vergangenheit betonten gerade jene, die jetzt lautstark Missmut äußern, dass der Eurovision Song Contest nicht als politische Plattform mißbraucht werden dürfe. Richtig so! Im besonderen die schwule Community, zu der der eurovisionaer ja selbst gehört, könnte darauf achten, den respektvollen, vorurteilsfreien Umgang miteinander zu praktizieren und sich nicht vor irgendeinen Meinungskarren spannen zu lassen, um dessen angebliche political Correctness unbedacht aufzusaugen.

Dicke Eier in der Hose haben – gerne, aber nicht, weil es gerade mal angesagt ist, Russland zu bashen. Wenn man keinen Schimmer hat, was außerhalb der Schlagerwelt vor sich geht bzw. seine Meinung aus der BILD bezieht, sollte man besser einfach den Mund halten. Das allein hätte am Dienstagabend als Statement ja schon genügt!

Foto: EBU / Sander Hestermann