Mal wieder durchgemogelt?

Mal wieder durchgemogelt?

AZBAzerbaijan – twelve Points! Das haben wir vergangenen Samstag zehnmal gehört. Abgesehen von den üblichen Verdächtigen Russland und Georgien kamen sie ebenso wieder aus Bulgarien, Malta und Litauen. Insbesondere die Höchstwertung aus der baltischen Republik sorgt dieser Tage für Aufmerksamkeit, nachdem einen Abend vor dem großen Finale ein litauisches Video auftauchte, dass einen angeblichen Deal zu Gunsten Aserbaidschans dokumentierte. Dabei sollen größere Geldbeträge denjenigen versprochen worden sein, die im Gegenzug am Samstag – und mit entsprechenden SIM-Karten versorgt – für den kauskasischen Staat anrufen.

Ähnliche Vorwürfe gab es bereits letztes Jahr, als sich Verantwortliche des zypriotischen TV-Senders CyBC wunderten, dass dem aserbaidschanischen Beitrag acht Punkte aus Zypern zuteil wurden, obschon die Jury dem Song keine Stimme gab. Eine Beeinflussung des Televotings scheint in bevölkerungsärmeren Staaten, gerade wenn diese nicht am Finale teilnehmen und daher über wenig Zuschauerresonanz verfügen, besonders erfolgversprechend zu sein. Bis heute ist nicht bekannt, ob die EBU den damaligen Fall untersuchen ließ.

Am vergangenen Sonntag, kurz nachdem das zuvor erwähnte Video publik wurde, gingen nun die Aseris selbst in die Offensive: Sie reklamieren nun ebenfalls Unstimmigkeiten beim Malmöer Voting, weil nämlich der Bruderstaat Russland am Samstag keine Punkte aus Baku erhalten hatte, obschon die Jury angeblich „eine hohe Punktezahl“ an die russische Sängerin vergeben habe. Der (für seine Nähe zur Demokratie nicht gerade bekannte) Präsident Aliyev solle nun höchtspersönlich eine erneute Stimmenauszählung vorantreiben. Zur gleichen Zeit bevölkern aserbaidschanische „Fans“ diverse Internetforen und werfen den armenischen Anhängern vor, sie hätten das Video fingiert, um dem Nachbarstaat zu schaden.

Das liest sich in der Summe wie ein gelungener Kindergeburtstag, könnte dem Wettbewerb letztlich aber erheblich schaden, zumal man westlich von Berlin nicht müde wird, alljährlich Schiebung und Nachbarschaftshilfe hinter den eigenen schlechten Platzierungen zu vermuten. Dennoch ist es erstaunlich, dass die EBU heute offiziell nochmals die Richtigkeit der aserischen Punktevergabe bestätigte und darüber hinaus die Manipulationsvorwürfe kommentierte, wo sie doch sonst derartige Meldungen einfach aussitzt:

„Sollten wir Beweise dafür finden, dass Regeln gebrochen wurden, einschließlich versuchter Power-Votings, werden wir unverzüglich das tun, wozu wir unseren Mitgliedern gegenüber verpflichtet sind: die Marke Eurovision Song Contest zu schützen.“

Ob den Worten Taten folgen, werden wir sehen. Sollte sich der Stimmenkauf jedoch bewahrheiten, ist die Lösung des Problems ganz einfach: die Aseris – und alle anderen, die es ihnen gleichtun – in hohem Bogen vor die Tür setzen!

Update: Mittlerweile nimmt die Auseinandersetzung immer skurrilere Formen an. Nun hat sich auch Weißrussland zu Wort gemeldet. Dessen Präsident Alexander Lukashenko zweifelt ebenfalls an der Rechtmäßigkeit der Ergebnisse, da sein Reich aus Russland keinen einzigen Punkt erhalten habe. Allmählich wird immer deutlicher, welche Vorstellungen einige osteuropäische Länder von einem fairen Wettbewerb tatsächlich haben. Die EBU sitzt in der Falle, wenn sie nicht schnellstens alle nationalen Wertungen veröffentlicht und das Verhältnis zwischen Televoting und Juryabstimmung transparent macht. Daran, dass der Eurovision Song Contest nicht allein munteres Wettsingen, sondern seit Jahren auch zu einer politischen Bühne verkommen ist, wird das jedoch nichts ändern.

Grafik: eurovisionaer

Europe is watching you

Eine Losung, die in anderen Kontexten eher furchteinflößend gewirkt hätte, zeigte am vergangenen Samstag, dass zwar nicht ganz Deutschland, aber zumindest dessen 2011-er Moderatorin Anke Engelke Eier in den Hosen hatte. Während die um den Eurovision Song Contest 2012 in Baku begleitende journalistische Berichterstattung  zunehmend auf das Thema Menschenrechtsverletzungen in dem autoritär beherrschten Gastgeberland fokussierte, wurde im Rahmen der eigentlichen Live-Sendung über nahezu drei Stunden die Chance vertan, auf eben diese Missstände hinzuweisen. Doch dann wurde kurz vor Schluss als 38. von 42 Wertungen jene aus Deutschland abgerufen:

Nun mag man vielleicht über die Formulierung streiten, oder darüber, dass ausgerechnet Deutschland mal wieder den Zeigefinger erhoben hat… Fakt ist: Aserbaidschan hat alles dafür getan, sich der Öffentlichkeit als europäisch, weltoffen und modern zu präsentieren. Dennoch konnte die Hochglanzshow nicht verdecken, dass vor der Arena friedliche Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und kritische Journalisten zusammengeschlagen wurden. Für den Bau der Baku Crystal Hall wurden Bürger vertrieben und zwangsumgesiedelt.

Den Besuchern der Show wurde per Ticketaufdruck mitgeteilt, es sei verboten, andere Flaggen als die der teilnehmenden Nation mitzubringen (z.B. die Armeniens oder die sicherlich gut zur Veranstaltung passende Regenbogenfahne). Und ähnlich wie 2009 in Moskau wurden die vorderen Zuschauerreihen nicht ganz zufällig vornehmlich mit jubelnden weiblichen Fans besetzt.

Doch haben all diese Anmerkungen im Umfeld eines banalen Schlagerfestivals eine Berechtigung? Haben nicht nahezu alle Nationen ihre Künstler nach Baku entsandt? Hat sich nicht die deutsche Firma Brainpool gerühmt, den fetten Zuschlag für die Produktion erhalten zu haben? Hat nicht die EBU bis zuletzt mit dem Regime Aliyev kooperiert? Haben wir Fans nicht alle unseren eurovisionären Spaß gehabt?

Nein, die Show hätte nicht einer blödsinnigen Regel gehorchend an Aserbaidschan vergeben werden müssen, denn wir wissen seit Jahren, dass die Aseris (und nicht nur die) weniger am musikalischen paneuropäischen Wettbewerb als an der politischen Plattform interessiert sind, die er bietet. Wir wissen, dass die niedlichen Babushkis nur davon ablenken sollen, dass es im „Beinahe-Austragungsland 2013“, Russland, nunmehr per Gesetz verboten ist, alleine schon das Wort „schwul“ auszusprechen. Wir wissen, dass die Sicherheit der Contestbesucher 2008 in Belgrad lediglich über unzählige Hundertschaften Polizisten gewährleistet werden konnte.

Es gibt kein Medienereignis, dass dermaßen von Homosexuellen aus allen Ecken der Welt vereinnahmt und verehrt wird wie der Eurovision Song Contest. Die meisten von ihnen achten Werte wie Freiheit und Toleranz und selbstverständlich sollten gerade sie diese propagieren dürfen. Dadurch wird der Wettbewerb beileibe nicht politisiert, sondern vielmehr auf sein völkerverständigendes Ausgangsmoment zurückgeführt.

Einige EBU-Mitglieder (darunter aus Schweden, Norwegen, aber auch aus Großbritannien) wollen in Kürze einen Antrag einbringen, dass assoziierte Länder aus dem Verbund ausgeschlossen werden können, wenn sie demokratische Grundrechte wie beispielsweise die Rede- und Pressefreihet nicht achten. Zeiten der Eurovisions-Rekordteilnehmerzahlen und abenteuerliche Interviewübersetzungen wie im folgenden Beispiel wären dann endgültig Geschichte:

Doch bis es soweit ist, sind wir dankbar für den kleinen Einwurf von Frau Engelke, der wie ein dicker stinkiger Furz eines ungezogenen Mädchens das ach so glamouröse Fest – wenn auch nur kurz – unterbrach.


Ja, ist denn schon Weihnachten….?

Nein, zum Glück noch nicht! Doch unbemerkt vom gemeinen Eurovisionsanhänger, der das Festival ausschließlich auf das Frühjahr datieren würde, beginnen in zahlreichen europäischen TV-Redaktionsstuben bereits Anfang September und unter strengster Geheimhaltung erste interne Vorauswahlen, derweil sich an anderen Orten schätzungsweise ganze Politbüros die Köpfe nach gewinnbringenden ESC-Strategien heiß diskutieren. Wie schon im letzten Jahr sind dabei die Eidgenossen die schnellsten, denn auf deren Webseite können wir bereits seit dem 01.09. zahlreiche potentielle Siegertitel Einreichungen vorhören, von denen bislang eine schräger als die andere ist. Und auch in Deutschland wird an diesem Wochenende „Unser Star für Baku“ vorgecastet und eine neue Lena Meyer-Landrut geboren. Indessen haben sich die Zyprioten längst auf die Sängerin Ivi Adamou geeinigt und halten jetzt nur noch nach dem für sie passenden Liedgut Ausschau. Sprich – die Saison nimmt an Fahrt auf und schon bald wird der Hardcorefan alle 146 bulgarischen Vorentscheidungstitel mitsingen können und sich wie jeden Winter über die undurchschaubaren Machenschaften der ukrainischen Jury aufregen.

Baku 2012 – nun also doch? Ja, denn während die Aseris der EBU hoch und heilig die rechtzeitige Fertigstellung des Protztempels Baku Crystal Hall – dank der millionenschweren Auftragsvergabe an eine deutsche Baufirma – versprechen, für den Fall der Bauverzögerung wie gefordert mindestens 246 alternative Austragungsorte benannt haben und im Worst Case sogar die Frau des Präsidenten Aliyev, Mehriban, an den Westen verkaufen würden (wogegen diese sicher nichts einzuwenden hätte), können die Kritiker der Bewerbung allmählich „nur“ noch Menschenrechtsverletzungen anführen, die gegen eine Austragung in Aserbaidschan sprechen. Und auch für dieses Argument werden sich die cleveren Kaukasen bestimmt noch etwas einfallen lassen!


Schluss mit lustig

Während sich die Reference-Group letzten Monat ob der Vorbereitungen 2012 etwas wortkarg gab und der homo-, metro-, heterosexuelle Eurovisionssieger Eldar Qasimov dagegen nicht müde wird zu beteuern, dass dem schwul-lesbischen ESC-Stammpublikum in Baku keine Gewalt drohe, blättere ich in einem aserbaidschanischen Reiseführer, der mir vor wenigen Tagen von den Herren P. und V. geschenkt wurde.

Nicht nur, dass die Landeswährung Manat derzeit exakt einem Euro entspricht und von Robert Kalina entworfen wurde, der bereits – richtig! die uns vertrauten europäischen Scheinchen designt hatte – auch erfahre ich, dass die Luft in der kosmopolitisch anmutenden Hauptstadt insbesondere nahe der schillernden Uferpromenade nach Smog, Salz und Öl rieche. Selbst das Kapitel Sex (ja, das gibt es in diesem bereits 2009 aufgelegten Kompendium auch, ohne dass die Autoren wohl damals ahnten, wie wissbegierig sich heutzutage mancher Leser darauf stürzt….) klärt auf, dass die Gesellschaft zwar recht konservativ sei, jedoch in der Umgebung vom Europa-Hotel von selbiger gelegentlich Transvestiten gesichtet wurden. Generell dürften (wohl auch in anderen Hotels, so interpretiere ich das mal) gleichgeschlechtliche Paare, die ein Bett teilten, weniger Aufmerksamkeit erregen als ein unverheiratetes heterosexuelles Pärchen. Und letztlich sei gar die Kriminalitätsrate eine der niedrigsten Europas, wenngleich in der Region Nagorny Karabach schon ein wenig Vorsicht geboten sei.

Während also meine westeuropäisch geprägte Seele sich allmählich mit dem Gedanken eines südkaukasischen Traumurlaubs anfreundet, beginnen nun die Aseris jedoch – oder besser gesagt ihre politische Führung – den ganzen Träumereien ein jähes Ende zu bereiten. Natürlich geht es dabei um den Konflikt mit Armenien, genauer gesagt um die Herausgabe von Gebieten in der oben erwähnten Region Berg-Karabach, die der Nachbar seit 17 Jahren besetzt hält. Notfalls wolle man das Gebiet mit Gewalt befreien, sagte Präsident Ilcham Aliyev bei einer Militärparade zum “Tag der Streitkräfte“ am 26. Juni 2011 und redete sich damit weder in die Herzen der seit Jahren verhandelnden EU noch in die der für den Songcontest zuständigen EBU. Da hört dann sicherlich der Spass auf. Dem geneigten Fan sei daher mal zur Abwechslung neben dem den Sommer überbrückenden Studium der Wertungstabellen der 60er Jahre auch diese Seite (mittlerweile leider gelöscht) empfohlen, die einen guten Einblick in die derzeitig mehr als angespannte Lage gibt.