Eurovisionäre Nachhilfe: 22. April 1978

Eurovisionäre Nachhilfe: 22. April 1978

1978Irgendwie zeichnete sich von Anfang an ab, dass der Song Contest 1978 nicht besonders glorios daherkommen und meine seit 74 angefachte Eurovisionsbegeisterung spürbar dämpfen sollte. Eine deutsche Vorentscheidung gabs erst gar nicht zu sehen. Sie fand zwar statt, aber nur im Radio und ging völlig an mir vorbei. Wie auch an der ebenfalls an der Liedsuche beteiligten Jury. Diese nämlich empfand einen der vorgestellten Beiträge grauenhafter als den anderen und verweigerte sich einer Wertung, da überhaupt keines, keines, keines der eingereichten Lieder wettbewerbsfähig sei. Lediglich eine Empfehlung gab sie den Verantwortlichen beim Südwestfunk mit auf den Weg: Deutschland möge sich am besten ganz vom Schlagerfestival zurückziehen! Das passte zur ewigen Knatscherei der von Hochkultur träumenden Journalisten und heimischen Liedermacher-Muschpoke, die gebetsmühlenartig das ihrer Meinung abtörnende Niveau des Wettsingens alljährlich beklagten.

d78Der SWF jedoch schlug sich ein Ei auf die Meinung der Experten und entschied kurzerhand, dass halt die Favoritin der Radiohörer, Ireen Sheer, zum Finale entsendet werden sollte. Teuer konnte der „Spaß“ eh nicht werden, sollte doch die Veranstaltung in einem schmucklosen Kongresszentrum in Paris, quasi um die Ecke stattfinden. Zudem hatte man sich die Peinlichkeit wie auch die Kosten einer öffentlichen TV-Vorentscheidung erspart. Und da die englische Sirene schon einige Zeit keinen veritablen Hit mehr vorzuweisen hatte, ließ sie sich auf diesen Kuhhandel ein und überlegte, wie sie Europa, wenn sie schon ein angeblich so unterirdisches Liedchen sänge, beeindrucken könnte. Kurz vor der Abreise endlich, als sie ihr neues Lieblingscape in den Koffer packte, kam ihr eine Idee…

Ehrlich gesagt war mir Ireen Sheer schnuppe. 1978 war einfach nur Disco, Disco, Disco angesagt, seit Saturday Night Fever erschien eine großartige Hymne nach der anderen und ich lechzte wie auf Droge danach. Das deutsche „Feuer“ konnte dagegen nur abstinken, wenngleich es einen – sagen wir einfach mal mutig – Beat hatte, der mit viel Wohlwollen dem damaligen Tanzschuppen-Rhythmus nahe kam. Noch etwas näher am Zeitgeist war das spanische Duo Baccara, das im vorherigen Sommer ganz Europa mit angeblichen Boogiekünsten bezirzt hatte, und nun für Luxemburg den Song Contest gewinnen wollte. „Parlez-vous francais?“ – eine Frage, die im Land der Franzosen etwas dämlich wirkte – hauchten sie ebenso unverständlich wie schon ihre englischsprachigen Hits. Doch auch Baccara fand ich mittlerweile eher uncool. Anders übrigens als ein guter Freund, der damals (wie ich erst vor kurzem erfuhr) stundenlang vor einer ortsansässigen Wüstenrotfiliale stand, um ein Autogramm der Grazien zu ergattern, das Mayte und/oder Maria dann, wohl um Missverständnisse zu vermeiden, sinnigerweise gleich mit Baccara unterschrieben.

lx781978 also waren sie auf dem Papier der heißeste Act, mit Nummer-Eins-Erfolgen quer durch Europa, was ich nach dem ganzen Lamento um die verschmähte Ireen grundsätzlich okay fand. Und auch wenn kein Mensch ihr Kauderwelsch verstehen konnte, gingen die schwarz-weißen-Tänzerinnen als große Favoritinnen an den Start. Dann aber hat wahrscheinlich die zuvor schon Unruhe stiftende deutsche Expertenjury mal eben ihre europäischen Kollegen in den angeschlossenen Funkhäusern angerufen und diese ins Gebet genommen, denn prompt gingen die spanischen Luxemburgerinnen beim abschließenden Voting unter wie ein Stein im Wasser. Lediglich für Platz sieben sollte es am Ende reichen, trotz anfänglicher Douze Points aus Portugal, Spanien und Italien. Eine Blamage! Tja, und wer lag zum Schluss gar knapp vor den beiden iberischen Edelrosen? Unsere Ireen natürlich! Die hatte, zäh wie Leder und allen Anfeindungen zum Trotz, ziemlich berechnend ein innovatives Element in den europäischen Gesangswettstreit eingebracht, auf das fortan so manch verzweifelter Interpret nicht mehr verzichten wollte: den Kostümweitwurf! Ihr schickes weißes Cape schleuderte sie beim ersten Refrain voller Verve quer über die französische Bühne, was heute in kaum einem TV-Rückblick fehlen darf, damals für Aufmerksamkeit sorgte und prompt von den Musiksachverständigen mit Platz sechs belohnt wurde.

il78Ähnliche Fachkenntnis bewiesen dieselben Juroren, als sie das israelische Kinderlied, dessen simpler Text putzig wie im Kibbuz vorgetanzt wurde, auf Rang eins setzten. Zugegeben, es war einer der wenigen tatsächlich eingängigen Beiträge in einer ansonsten eher sterbenslangweiligen Konkurrenz. Selbst auf die Briten war in diesem Jahr kein Verlass, kopierten sie mit Coco doch ihre eigene Song-Contest-Historie, was letztlich mit der bis dato schlechtesten Platzierung für das Vereinigte Königreich bestraft wurde. Europas bestes Lied sollte also gar nicht aus Europa, sondern aus Israel kommen, womit sich der Kreis zum Anfang dieses kleinen Artikels schließt. Auf dem ganzen Kontinent war kein eurovisionäres Hitmaterial vorhanden, der Glamourfaktor, den Abba vier Jahre zuvor ins Spiel gebracht hatten, war plötzlich nirgends mehr auszumachen. Wen wundert es da, dass die gastgebenden Franzosen die Veranstaltung wie die Übertragung eines Staatsbegräbnisses inszeniert und mit einem Fahrstuhl zum Schafott garniert hatten? Folglich war der 78er Jahrgang auch in Sachen Chartbuster ein ziemlicher Reinfall: „A-Ba-Ni-Bi“, der Siegertitel, schaffte es gerade mal bis auf Platz 22, die spanischen Tänzerinnen bis 21 und die unverwüstliche Mrs Sheer (die danach nur noch Kopfweh beklagte) lediglich auf Rang 39 der heimischen Verkaufshitparade. 1979 konnte nur besser werden – und wie wir mittlerweile wissen, war es das – dem Eurovisionsgott sei dank – dann auch!
Coverfotos: EMI, RCA, Polydor

scoreboard 1978Foto Scoreboard & Logo: EBU


Eurovisionäre Nachhilfe: 06. April 1974

abba 1974 universal bubi heilemannFoto: Universal/BubiHeilemann

1974An diesem Tag – also heute vor vierzig Jahren – wurde ich eurovisionär! Das hört sich spektakulär an, war es anfänglich aber überhaupt nicht. Denn während ich im Vorfeld des Wettbewerbs die damals alljährlich in der Bravo erscheinende Grand-Prix-Übersicht studierte, sympathisierte ich bestenfalls mit den heimischen Vertretern Cindy & Bert, was ich aus heutiger Sicht mal als Jugendsünde entschuldigen möchte. Mouth & McNeal aus Holland könnten den Deutschen vielleicht gefährlich werden, mutmaßte ich, denn auch die kannte ich aus der ZDF-Hitparade. Olivia Newton-John fand ich dagegen schon immer doof.

swe74Dann der 06. April: ich durfte ausnahmsweise länger aufbleiben und tatsächlich meine erste Eurovision am Bildschirm verfolgen! Ein Abend voller Ooh-, Hui- und Aha-Erlebnisse: Nie zuvor hatte ich diese Fanfare gehört, die das Festival feierlich eröffnete, und einen Kommentator, der erklären musste, was die Ansagerin im Morgenrock erzählte. Europäische Länder kannte ich zwar aus dem Diercke-Schulatlas, dass diese jedoch um die Wette sangen, war mir bis zu dem Zeitpunkt noch nicht untergekommen. Ich war aufgeregt wie Bolle, doch die ersten Lieder – passend zum ehrwürdigen Dome-Theater, in dem sie vorgetragen wurden – waren allesamt recht brav und langweilig, einschließlich das der von mir verhassten Australierin, die für England startete, wo moderne Musik ja eigentlich herkam. Noch ahnte ich nicht, dass sich innerhalb einer knappen Stunde meine Vorstellung von Pop für immer verändern sollte. Werner Veigel sagte die Startnummer acht an, als Agnetha und Annafrid die Bühne erstürmten und die glitterige Deko wie für sie gemacht zu sein schien. „My my, at Waterloo Napoleon did surrender!“ Sofort war mir klar, dass das piefige deutsche Duo dagegen nur abstinken konnte und seine Mikros am besten schnell wieder eingepackt hätte. Okay, die Holländer waren ganz lustig, die Italienerin offensichtlich sehr traurig und die Israelis hatten rattenscharfe Pullunder an. Mein Favorit für diese seltsame Hitparade aber stand schnell und unerschütterlich fest – es waren die schwedischen Abbas (diese Pluralform wurde damals übrigens wirklich benutzt).

nl74Im familiären Umfeld dagegen kam „Waterloo“ gar nicht gut an, Hippies hatten schließlich beim Schlagerwettbewerb nichts zu suchen! Freundliche Fräuleins wie Severine, Dana und Vicky Leandros waren es, die das Spektakel die letzten Jahre über dominiert hatten. Gruppen waren demgegenüber erst seit zwei Jahren bei der Eurovision offiziell zugelassen und als Vertreter der so genannten Beatmusik im Grunde genommen (noch) vom Schlagermainstream verpönt. Heute weiß ich natürlich um die an jeder Ecke lauernde behäbige Spießigkeit der Siebziger, damals erahnte ich sie nur. Abba waren daher so was wie ein frischer Luftzug, der pfeilschnell durchs muffige Wohnzimmer zog. Knallbunte Lichter in meiner bis dato eher schwarz-weißen Welt!

Dann folgte die für heutige Verhältnisse recht flotte Wertungsprozedur unter Leitung von Katie Boyle (immer noch im puscheligen Morgenmantel): 24 Votes, trotz der Null-Punkte-Klatsche der angelsächsischen Juroren reichte das zum Sieg, der vielleicht am riesigen Brightoner Scoreboard nicht übermäßig eindrucksvoll daher kam, für die europäische Gesangsveranstaltung jedoch einen tiefen Einschnitt darstellte. Urplötzlich wurde der Grand Prix Eurovision zum Eurovision Song Contest (obschon die Briten diesen Namen bereits in den 60ern einführten, er sich aber lange Zeit gegen den französischen Terminus nicht durchsetzen konnte) und lieferte wahrhaftiges Hitmaterial. Und ich hatte ihn für mich entdeckt und wollte ihn nie mehr loslassen!

lx74Nur so am Rand bekam ich in den Wochen danach mit, dass der Kanzler umziehen musste und wegen Beckenbauer ein riesiger Fußball auf unsere Straße gemalt wurde. Abba dudelte ich während jenes Sommers (der nach Aussage des DWD angeblich zu kühl, in meiner Erinnerung jedoch sehr warm war) rauf und runter. Zwar hatten es selbst Frau Sheer und der dicke Holländer auf meine vom Radio aufgenommene himmelblaue Musikkassette geschafft, dennoch gierte ich pausenlos nach neuen Melodien der vier Schweden, die mich auf immer größeren Postern aus jeder Ecke meines Kinderzimmers anlächelten. Und auf meine damalige Lieblingshose, ein giftgrünes Polyesterding mit überdimensionalem Schlag, durfte ich unter Aufsicht meiner Oma das Kürzel ABBA aufbügeln. Vorsichtig, damit die Hose nicht in Flammen aufging. Auch als die Skandinavier – seltsamerweise – innerhalb weniger Monate bei meinen Klassenkameraden jäh uncool wurden, blieb ich ihnen treu und sparte mein Taschengeld weiterhin für stets neue Alben und Singles. Über acht Jahre – meine gesamte Teenagerzeit – ging das so, sie waren immer da und machten mich mit ihrer Musik glücklich. Dann kam nichts Neues mehr. Lange hatte ich gewartet, dass sie wie alle anderen irgendwann einfach wiederkommen. Sie taten es nicht. Mittlerweile denke ich mir, dass das ein Glück war. Denn möglicherweise nur deswegen bleiben sie selbst heute für den Eurovisionär so frisch und fabelhaft wie am 06. April 1974.  Coverfotos: EBU/ Polydor (2) / Decca

scoreboard 1974

Foto: EBU