Italien macht den Affen

Italien macht den Affen

Sonntagnacht – Wenige Stunden, nachdem die Siegerpodeste in San Remo verräumt waren, gab die italienische RAI bekannt, dass ihr überraschender Festivalgewinner Francesco Gabbani auch nach Kiew reisen möchte. Diese – von vielen sehnsüchtig erwartete – Nachricht löste in der ESC-Community eine Begeisterung aus, die zuletzt ein Herr Rybak aus Norwegen lange vor dem eigentlichen Contest anno 2009 entfachte.

Gabbani, eigentlich noch ein Neuling der italienischen Musikszene, hat alles, wonach es der gierigen Fanschar in dieser bislang äußerst mittelmäßigen Vorsaison so sehr dürstet: ein Kracher von einem – gar modernen – Lied, das, in eine sympathische Bühnenshow mit origineller Choreo eingebettet, komplett vom Charme und der Präsenz des Sängers getragen wird. Von Dublin bis Moskau überschlagen sich die ESC-Nerds – meistens mit dem richtigen Riecher für solch seltene Fälle ausgestattet – mit Lob. Braucht es da noch einen Hinweis, dass auch der eurovisionaer außer Rand und Band und aus dem Häuschen ist?

Der Clou: Was so fröhlich über die Bühne geht, ist in Wahrheit Gabbanis bitterböse und gleichsam kluge Beschreibung unserer modernen Gesellschaft: in der Intelligenz schlichtweg aus der Mode gekommen, Menschlichkeit allenfalls virtuell und Körperlichkeit verpönt bzw. steril sei. Sein Fazit: Die Evolution stolpere, denn während wir, die nackten Affen, in den Untergang tanzten, stünden unsere Vorfahren, die Primaten, bald wieder bereit. Dazu hebt der schöne, schelmische Francesco, stets synchron mit einem gleichermaßen gelenkigen Gorilla, abwechselnd das Bein und fuchtelt wild mit den Händen – so wie mittlerweile halb Italien: das postet seit vergangener Woche landauf, landab Handyvideos mit dem Gabbani-Tanz.

Und Resteuropa wird es ihm in drei Monaten mit einem breiten Grinsen im Gesicht gleich tun. Jede Wette!


Zögernde Italiener

Francesca Michielin | No Degree Of Separation

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“Ok, dann mach ich’s halt.” So oder ähnlich lauteten wohl am frühen Sonntagmorgen die Worte der San-Remo-Zweitplatzierten Francesca Michielin, nachdem die RAI sie die ganze Nacht über mit einem ESC-Ticket drangsaliert hatte. Grund: Die Sieger des italienischen Traditionsfestivals, die Altherrencombo “Studio”, wollten partout nicht in den Stockholm-Deal einschlagen. Angeblich liesse sich der ESC-Trip nicht mit ihrer geplanten Tournee und ihrem biblischen Alter vereinbaren. Wir vermuten nunmehr am Rande, dass offenbar italienisches Blut durch Andreas Kümmerts Adern fließt, erfahren aber auf jeden Fall, wie unpopulär der ESC im Stiefelland weiterhin ist.

Also musste Frau Michielin ihren wunderschönen Beitrag “Nessun grado di separazione” mehr oder weniger gezwungenermaßen für den schnöden Eurovisionswettbewerb hergeben. Mittlerweile jedoch scheint sich die Gute an den anfänglich verschreckenden Gedanken gewöhnt zu haben, spielte sie doch zwischenzeitlich eine gekürzte, anglifizierte ESC-Version ihres Titels ein. Die verzaubert zwar nicht mehr ganz so wie das italienische Original, ist aber immer noch besser als vieles andere aus dem Durchschnittsplastikpopsortiment dieses Jahrgangs.

Bestes Mal (u.a.): Toto Cutugno | Insieme 1992

Letztes Mal: Il Volo | Grande Amore


Mailand oder Madrid? Hauptsache Italien!

Neulich schiebt der eurovisionaer den Silberling mit dem 1990er Jahrgang in den DVD-Player. Das ist so eine Art Methadonprogramm, welches sich während der nachrichtenarmen ESC-Vorsaison als recht probates Mittel erweist, die Symptome des harten Song-Contest-Entzugs ein wenig abzumildern.

Eingefleischte Fans wissen: Trotz ihres Alters erfüllt die Zagreber Ausgabe immer wieder ihre beruhigende Wirkung, bietet sie doch ein für damalige Verhältnisse relativ modernes musikalisches Spektrum. Vorausgesetzt, der Zuschauer skippt die besonders übel aufstoßenden zuckersüß-pathetischen Hymnen, die den Wettbewerb seinerzeit als Folge des wenige Monate zuvor Europa euphorisierenden Mauerfalls überschwemmt hatten. Ähnlich entzückt freut sich der Blogger 25 Jahre später auf der heimischen Couch über ein Wiedersehen mit seinen eurovisionaeren Lieblingen aus Frankreich, Israel und Spanien. Letztere haben schon allein wegen der leidigen Playbackpanne ewige Berühmtheit erlangt und sind bekanntermaßen aus kaum einen ESC-Rückblick mehr wegzudenken.

Der eigentliche Skandal des Song Contests 1990 jedoch wird in allen Retrospektiven brav unterm Deckel gehalten, was gerade heutzutage, wo eifrig über die Intransparenz der EBU gestritten wird, ein wenig nachdenklich stimmt.

Das Voting ist damals am 05. Mai in vollem Gange, als Italien als 19. Jury aufgefordert wird, seine Punkte zu vergeben. Und nach einer kurzen Pause meldet sich der ein wenig schwerfällig in den Redefluss kommende Sprecher der RAI-Jury mit den Worten „Voici les résultats du jury espagnol“.

Helga, unvergessene Gastgeberin des kroatischen Fernsehens, schaut sofort verschreckt zu ihrem Co-Moderator Olivar herüber, der aber überspielt den Lapsus nicht etwa nonchalant, sondern hakt recht ungeschickt nach: „Aber das ist doch die italienische Jury, oder?“ Das Reaktionsvermögen des offensichtlich alkoholisierten Jurysprechers scheint mittlerweile jedoch komplett außer Kraft gesetzt zu sein, er wertet munter weiter, bis schließlich Frank Naef, Offizieller der EBU, ihn auffordert, einfach von vorne zu beginnen. Das tut er prompt und entschuldigt sich lapidar mit einem „technischen Problem“. Was folgt ist eine eigentümliche Wertung, während der der spätere Sieger Italien für seine direkten Konkurrenten Frankreich und Irland keinen einzigen Punkt rausrückt.

Der Vorfall wird danach nie wieder thematisiert. Lediglich in einigen Fanforen (Link zwischenzeitlich entfernt) raufen sich seitdem eurovisionäre Verschörungstheoretiker zusammen, die behaupten, Italien habe für den Contest gar keine Jury abgestellt (was einen nicht sonderlich verwundert, denkt man wiederum an die Organisation des Folgewettbewerbs 1991 in Rom zurück). Infolgedessen habe die EBU gemeinsam mit dem verantwortlichen jugoslawischen Sender JRT mir nichts dir nichts beschlossen, eine Handvoll Zagreber Studenten in einem Nebenraum mit vornehmlich dalmatinischem Rotwein zu bewirten und einfach als italienische Jury auszugeben. Dass diese dann unter steigendem Pegel bald nicht mehr gewusst habe, ob sie nun aus Italien oder Spanien komme – kann passieren.

Eins ist klar: Von der sturen EBU werden wir wohl nie erfahren, was da genau gelaufen ist. Statt dessen können wir von Glück reden, dass der Wettbewerb 1990 nicht so ein enges Rennen war wie noch zwei Jahre zuvor in Dublin. Um allerdings den ESC-Rausch ohne Katerstimmung zu genießen, sollten wir uns besser nicht fragen, wie viele Schaltungen es damals noch in irgendwelche Hinterzimmer der Lisinski-Halle gab.


Super Samstag?

Exakt vier Wochen sind es noch bis zum Einsendeschluss aller Wettbewerbsbeiträge 2015. Dann muss der vermeintliche ESC-Siegertitel beim Jon-O-la-la auf dem Tisch liegen. Doch ach, mittlerweile gilt es als schick in Eurovisionia, dem nationalen Finale mindestens drei bis vier Vorrunden zu gönnen, manche ESC-Enthusiasten strecken ihre Vorauswahl gar wie Gummi auf über acht Ausgaben, was jedoch eher zu starkem Unwohlsein als zu einem qualitativen Mehrwert führt. Besonders im Februar – vornehmlich samstagabends – knubbeln sich daher die Entscheidungen quer über den Kontinent, weshalb ganz einfallsreiche Fans von den „Super Saturdays“ sprechen.

Glücklich sind dann die, die über Satellitenschüsseln verfügen, wie sie sonst nur die NASA besitzt. Alle anderen basteln bunte Timelines, surfen im Netz von Stream zu Stream und ärgern sich, wenn der ganze Kladderadatsch ständig zusammenbricht. So wie der eurovisionaer, der sich auch mal wieder einen sssuper Sssamstag erlaubt, weil seine diesjährigen Helden Elina & Stig das Semifinale des immer wieder wunderbaren Eesti Laul überstehen müssen. Zur gleichen Zeit ist man in Reykjavik schon einen großen Schritt weiter, denn dort singen die sieben Finalisten in einem recht tristen Kinosaal bereits um das begehrte Ticket nach Wien (die prächtige Harpa war aus unerfindlichen Gründen – wie die auf der Insel gerade wandernde Frau S per SMS zu berichten weiß – offensichtlich anderweitig gebucht). Und wiederum Tausende Kilometern weiter südlich sind aufgeregte italienische Floristen vermutlich bis zur letzten Sekunde damit beschäftigt, imposante Blumengebinde zu fabrizieren, um dem traditionellen Sanremo-Festival, das zum großen Finale einläd, besonderen Glanz zu verleihen. Da dort erfahrungsgemäß aber mehr palavert denn gesungen wird, bleibt sogar noch ein wenig Zeit für das von vielen so heiß geliebte schwedische Mello, das wiederum just eine Vorrunde mit Unmengen von Pomp, Puscheln und Playback in der Malmö Arena feiert.

Mehr Multitasking schafft der eurovisionaer nicht, der sich ein wenig verdutzt fragt, wie es den ganz Unermüdlichen gelingt, sich derweil auch noch in Litauen und Ungarn zuzuschalten. Für den Song-Contest-Laien: ein Online-Vorentscheidungsabend im Februar ist so ähnlich wie eine Bundesliga-Konferenz-Schaltung auf SKY, allerdings mit dem Unterschied, dass man Kommentar und Bildregie selbst übernehmen muss. Erfahrene Super-Samstag-Zuschauer haben da wohl über die Jahre ein feines Näschen entwickelt, wann es wo gerade langweilig wird und – schwupps – beamen sie sich mit einem Mausklick mal eben von Tallinn nach Budapest. Ungeübte aber bleiben zu lange beim isländischen Werbeblock hängen oder lauschen den Fachurteilen der estnischen Experten, von denen sie letzten Endes doch kein einziges Wort verstehen.

Egal, Elina & Stig sind großartig und segeln sicher in die nächste Runde, womit man nicht unbedingt rechnen durfte, kennt man mittlerweile doch das zuweilen recht spleenige Abstimmungsverhalten eben jener – die übrigen elf Monate des Jahres wahrscheinlich arbeitslosen – Juroren in Estland. Ortswechsel: Im isländischen Kinosaal wird im Ssssuperfinali eine schamlose, jedoch freudestrahlende Emmelie-de-Forrest-Kopie auserkoren, nach Wien zu reisen, wenngleich es bessere, weil ESC-untypische Töne gab. Aber auch schlimmere… Apropos: Den schwedischen Schlagerkarneval hält der eurovisionaer nur wenige Minuten aus und klickt dann völlig entnervt das Streaming-Fenster weg. Informationsbegierige Leser dieses Blogs seien an fachkundigere, weil nicht so voreingenommene Berichterstatter verwiesen.

Bleibt also noch das italienische Festival della Canzone! Mit seinen unzähligen Interviews, Werbeunterbrechungen, Interviews, Gastauftritten, Interviews und bunt eingestreuten Schnelldurchläufen garantiert es alljährlich einen Showspaß bis in die frühen Morgenstunden. Da der eurovisionaer den munteren Abend allerdings mit mehreren Gläschen Rotwein begossen hatte, kann er auch hier nur bedingt einer gewissen Chronistenpflicht nachkommen. Er beschränkt sich daher auf das Wesentliche: Italien erklärt irgendwann weit nach Mitternacht den Knödeldreier Il Voro, der nunmehr als die jungen Tumore in die ESC-Geschichte eingehen wird, zum Sieger. Na denn Prost!


Emma kann aufatmen

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Italien sei Dank! 24 Jahre musste Emma warten, bis ihr Name wieder rein gewaschen war! Vor langen Jahren, 1990, nölte eine junge Britin mit gleicher Anrede das unsägliche „Give a little Love back to the World“, doch seit diesem Jahr werden Fans in ganz Europa voller Freude nur noch an die italienische Emma denken. Soeben gab die RAI bekannt, dass Frau Marrone für den Song Contest 2014 antreten wird. Erneut schickt Rom also eine im eigenen Land etablierte Künstlerin, die drei Nr1-Alben sowie einen San-Remo-Sieg 2012 vorweisen kann. Gute Wahl!

Update: Gerade mal einen Tag später wurde auch schon der Beitrag für Kopenhagen nachgereicht: „La mia Città„, ein Track des im November vergangenen Jahres erschienen Albums „Schiena vs Schiena“, soll für eine respektable Platzierung Italiens sorgen. Das wird gelingen!