…endlich!

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Offensichtlich will der Eurovision Song Contest doch nicht in seiner partylauningen Blase verharren und wagt einen Schritt nach draußen in die reale Welt. Wie der „Stern“ heute online berichtet, hat die für den Wettbewerb zuständige Reference Group der EBU den russischen Sendern „Channel One“ und „RTR“ ein Schreiben zukommen lassen, in dem die Intendanten aufgefordert werden, Fragen zur Sicherheit der Teilnehmer und Besucher sowie der künstlerischen Freiheit im Falle einer Austragung des Song Contests in Russland zu beantworten.

„Wir haben uns zu diesem Schritt entschlossen, weil einige große Delegationen massive Sicherheitsbedenken haben“, sagt NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber, der für Deutschland in dem Lenkungsausschuss sitzt, „darunter auch Deutschland“.

Dabei ist der Fragenkatalog wohl als vorzeitige Warnung zu verstehen, denn der beschriebene Fall könnte frühestens nach einem Sieg Russlands 2014 in Kopenhagen eintreten. Zu den Bedenkenträgern zählen u. a. Deutschland und Schweden. Die Skandinavier wollen im Fall, dass die Vorbehalte nicht ausgeräumt werden, der Veranstaltung fernbleiben. Ein solcher Boykott wird in der deutschen Delegation ebenfalls diskutiert. Hintergrund sind die am 30.06.2013 erlassenenen russischen Gesetze, die jegliche positiven Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien unter Strafe stellen.

„Dies widerspreche dem Wertekatalog der Europäischen Fernsehunion EBU, der vor einem Jahr verabschiedet wurde. Demnach soll der Schlagerwettbewerb „ein öffentlicher Raum sein, in dem alle Bürger ihre Meinung frei äußern können.“

Bravo! Damit hätte ich nicht gerechnet! Und nicht gerade selten habe ich mich an dieser Stelle über die Tatenlosigkeit der EBU ausgelassen. Schließlich hatte Frank-Dieter Freiling, ebenfalls Mitglied des Lenkungsauschusses, vor kurzem in einem Interview zwar von der Briefzustellung nach Moskau berichtet, zugleich aber wenig Handlungsspielraum eingeräumt, bestimmte Länder im Voraus auszuschließen:

„[…] gucken wir uns alle der möglichen teilnehmenden Länder an, ist bestimmt ein Viertel auf einer der Listen, die in diesen Ländern Verstöße gegen für uns selbstverständliche Prinzipien wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit und so weiter vermelden.“

Demzufolge ist der Brief hoffentlich als Rundschreiben ebenso nach Minsk, Baku, Chisinau und in alle anderen Staaten, die die Achse des eurovisionär Bösen darstellen, unterwegs!

Grafik: Wikimedia Commons

Europe is watching you

Eine Losung, die in anderen Kontexten eher furchteinflößend gewirkt hätte, zeigte am vergangenen Samstag, dass zwar nicht ganz Deutschland, aber zumindest dessen 2011-er Moderatorin Anke Engelke Eier in den Hosen hatte. Während die um den Eurovision Song Contest 2012 in Baku begleitende journalistische Berichterstattung  zunehmend auf das Thema Menschenrechtsverletzungen in dem autoritär beherrschten Gastgeberland fokussierte, wurde im Rahmen der eigentlichen Live-Sendung über nahezu drei Stunden die Chance vertan, auf eben diese Missstände hinzuweisen. Doch dann wurde kurz vor Schluss als 38. von 42 Wertungen jene aus Deutschland abgerufen:

Nun mag man vielleicht über die Formulierung streiten, oder darüber, dass ausgerechnet Deutschland mal wieder den Zeigefinger erhoben hat… Fakt ist: Aserbaidschan hat alles dafür getan, sich der Öffentlichkeit als europäisch, weltoffen und modern zu präsentieren. Dennoch konnte die Hochglanzshow nicht verdecken, dass vor der Arena friedliche Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und kritische Journalisten zusammengeschlagen wurden. Für den Bau der Baku Crystal Hall wurden Bürger vertrieben und zwangsumgesiedelt.

Den Besuchern der Show wurde per Ticketaufdruck mitgeteilt, es sei verboten, andere Flaggen als die der teilnehmenden Nation mitzubringen (z.B. die Armeniens oder die sicherlich gut zur Veranstaltung passende Regenbogenfahne). Und ähnlich wie 2009 in Moskau wurden die vorderen Zuschauerreihen nicht ganz zufällig vornehmlich mit jubelnden weiblichen Fans besetzt.

Doch haben all diese Anmerkungen im Umfeld eines banalen Schlagerfestivals eine Berechtigung? Haben nicht nahezu alle Nationen ihre Künstler nach Baku entsandt? Hat sich nicht die deutsche Firma Brainpool gerühmt, den fetten Zuschlag für die Produktion erhalten zu haben? Hat nicht die EBU bis zuletzt mit dem Regime Aliyev kooperiert? Haben wir Fans nicht alle unseren eurovisionären Spaß gehabt?

Nein, die Show hätte nicht einer blödsinnigen Regel gehorchend an Aserbaidschan vergeben werden müssen, denn wir wissen seit Jahren, dass die Aseris (und nicht nur die) weniger am musikalischen paneuropäischen Wettbewerb als an der politischen Plattform interessiert sind, die er bietet. Wir wissen, dass die niedlichen Babushkis nur davon ablenken sollen, dass es im „Beinahe-Austragungsland 2013“, Russland, nunmehr per Gesetz verboten ist, alleine schon das Wort „schwul“ auszusprechen. Wir wissen, dass die Sicherheit der Contestbesucher 2008 in Belgrad lediglich über unzählige Hundertschaften Polizisten gewährleistet werden konnte.

Es gibt kein Medienereignis, dass dermaßen von Homosexuellen aus allen Ecken der Welt vereinnahmt und verehrt wird wie der Eurovision Song Contest. Die meisten von ihnen achten Werte wie Freiheit und Toleranz und selbstverständlich sollten gerade sie diese propagieren dürfen. Dadurch wird der Wettbewerb beileibe nicht politisiert, sondern vielmehr auf sein völkerverständigendes Ausgangsmoment zurückgeführt.

Einige EBU-Mitglieder (darunter aus Schweden, Norwegen, aber auch aus Großbritannien) wollen in Kürze einen Antrag einbringen, dass assoziierte Länder aus dem Verbund ausgeschlossen werden können, wenn sie demokratische Grundrechte wie beispielsweise die Rede- und Pressefreihet nicht achten. Zeiten der Eurovisions-Rekordteilnehmerzahlen und abenteuerliche Interviewübersetzungen wie im folgenden Beispiel wären dann endgültig Geschichte:

Doch bis es soweit ist, sind wir dankbar für den kleinen Einwurf von Frau Engelke, der wie ein dicker stinkiger Furz eines ungezogenen Mädchens das ach so glamouröse Fest – wenn auch nur kurz – unterbrach.