Kiew 2017 – eine schwere Geburt

Kiew 2017 – eine schwere Geburt

Endlich! Die quengelnde ESC-Community darf aufatmen, denn nach gefühlten achtunddreißig ergebnislosen Versuchen hat sich der ukrainische TV-Sender NTU heute dazu durchgerungen, den Song Contest 2017 im schmucklosen International Exhibition Centre der Hauptstadt Kiew zu veranstalten.

Und doch bleiben mit dem nun getroffenen Beschluss eine Menge Fragen offen, die das Drama der vergangenen Wochen immer wieder aufs Neue anheizten: Gab es hinter den Kulissen Stress mit der EBU, die die notwendige Überdachung des Chernomorets Stadium in Odessa längst einem Schweizer Investor versprochen hatte? Oder war die langwierige Entscheidungsfindung doch eher in landestypischen Politmauscheleien begründet? So wortreich die Osteuropäer auch gerne argumentieren, wir werden es vorerst wohl nicht erfahren.

Doch Vorsicht – wer jetzt erleichtert aufatmet, sollte sich lieber darauf einstellen, dass uns auch die nächsten Monate noch so einige ukrainische Extravaganzen den ach so empfindlichen ESC-Nerv rauben werden. Da bleibt nur zu wünschen: Keep calm and love Eurovision!


Brot und Spiele

Selbst schuld. In der Nacht zum 15. Mai hatte sich das vereinte Schlagereuropa in einem Anflug von bislang ungewohnter Ernsthaftigkeit dazu entschlossen, einen auf politisch korrekt zu machen, wählte die anti-russische Krim-Gedächtnisnummer „1944“ in einem neuerdings inflationären Wertungsmarathon auf Platz 1 und gab dem Siegerland Ukraine als Hausaufgabe auf den Weg, den nächsten Contest 2017 bitteschön auszurichten.

So wollen es die wettbewerbseigenen Regularien, die der Gründungsvater Marcel Bezençon vor mehr als 60 Jahren zu Papier brachte. Nicht ahnend, dass nun – Mitte der weltpolitisch instabilen 2010-er Jahre – ein Land, das zu den ärmsten Europas zählt, sich in einem Bürgerkrieg befindet und Schwierigkeiten hat, eine freiheitlich demokratische Grundordnung herzustellen, dazu gedrängt wird, kommenden Mai den stets schrillen Gesangswanderzirkus zu beherbergen.

Doch hey, was machen die Ukrainer? Anstatt zu sagen „Sorry, aber wir haben gerade andere Probleme“ und die Ausrichtung des über die Jahre monströs gewachsenen und daher immer kostspieligeren Schlagerfestivals dankend abzulehnen, buhlen sie unverhohlen um Respekt und Anerkennung der Westeuropäer, indem sie weit im Vorfeld des zu erwartenden paneuropäischen TV-Traras ein eigenes mediales Spektakel eintüten. Unter dem – wohl der derzeitigen nationalen Rhetorik geschuldeten – martialischen Titel „Kampf der Städte“ schicken sie sechs Metropolen in den Ring, die sich demnächst mit eurovisionärem Flair aufhübschen wollen und dafür der staunenden Öffentlichkeit ihre infrastrukturellen Vorzüge in eigens produzierten TV-Sendungen präsentieren müssen.

Doch diese Form der ESC-Prostitution ist nicht ganz neu. Was noch 2011 in Düsseldorf hinter verschlossenen Türen gemauschelt, in Aserbaidschan ein Jahr später erst gar nicht hinterfragt wurde, entwickelte sich in den letzten Jahren zu einer größeren Herausforderung, als letztlich den zu Song Contest zu gewinnen: die ideale Lokalität für das Wettsingen zu finden. (Mehr über des Autors abgrundtiefe Abneigung gegenüber diesem nunmehr murmeltiergleich jedes Jahr aufs Neue nervenden Thema kann übrigens hier nachgelesen werden).

Die Anforderungen, die die Bewerber zur Krönung als ESC-Hauptstadt 2017 erfüllen müssen, werden von der EBU festgelegt. Sie sind nicht ohne und lassen sich dennoch an fünf Fingern abzählen:

  • zuvorderst braucht es eine Halle, die eine Kapazität für mindestens 7.000 Personen besitzt,
  • die sinnigerweise zudem über ein Dach verfügt (sonst wäre es ja auch keine Halle, sondern ein Stadion),
  • das Ganze bitte in direkter Nähe zu einem Pressezentrum für rund 1.500 Journalisten (oder solche, die sich dafür halten),
  • die wiederum mit den dann ebenfalls anwesenden Funktionären und Künstlern (schwupps sind das schon 3.000 Akteure) zu Beginn der Festivalwoche an einem stattlichen Ort (idealerweise ein altes Rathaus oder ähnliches) zu einem Sekt- Willkommensempfang paradieren können.
  • Abschließend verfügt die ESC-Megacity selbstverständlich über einen internationalen Flughafen, ein kunterbuntes soziales Leben wie z.B. Hipsterbars, Sterne-Restaurants, Upper-Class-Hotels und quirligen kulturellen Zentren, die gerne auch ein wenig landestypische Merkmale besitzen dürfen (aber nicht zu viele und bitte westeuropäischen Standards entsprechend).

„Nichts leichter als das!“ dachten sich neben den routinierten Hauptstädtern in Kiew einige nach ein wenig Publicity strebende Lokalpolitiker in Dnipro, Charkiw, Cherson, Lwiw und Odessa – sie alle wetteifern nun um eurovisionäre Ehren.

Dass bereits die Definition „internationaler Flughafen“ sehr dehnbar sein kann, dass die eigene Bevölkerung dem absehbar verschwenderischen Treiben eher skeptisch gegenüber steht, und dass der ukrainische Kulturminister noch im Juni höchstpersönlich zu Protokoll gab, die Regierung des maroden Landes wolle auf gar keinen Fall Staatsgelder für das Spektakel bereitstellen und biete abgesehen davon sowieso keinen geeigneten Standort, um den Eurovision Song Contest auszutragen – Schwamm drüber, hat keiner gehört.

Auch dass keine der Arenen – bis auf den Kiew Sportpalast, der jedoch zur fraglichen Zeit unseligerweise für ein Eishockeyturnier geblockt ist – über ein Dach verfügt, scheinen die Verantwortlichen geflissentlich übersehen zu haben (obschon sich der Widerwillen der EBU-Gewaltigen gegen Open-Air-Veranstaltungen hätte herumgesprochen haben müssen), tut es doch dem munteren Städteduell, das am 01. August in eine finale Entscheidung münden soll, keinen Abbruch.

Die Schlitzohren der EBU jedenfalls haben sich – wie aus gut informierter Quelle berichtet wird – währenddessen vom ukrainischen TV-Sender NTU schon einmal eine von der Regierung in Kiew gedeckelte Finanzgarantie in Höhe von 15 Millionen Euro zusichern lassen. Sie soll auf den Schweizer Bankkonten der Europäischen Rundfunkunion bis zum Abspann der Fernsehübertragung am 13. Mai 2017 eingefroren und nur dann verwendet werden, falls der Song Contest doch noch kurzfristig in ein anderes Land verlegt werden müsste.

Bis es soweit ist, feiert sich die Ukraine als popkultureller Nabel Europas. Willkommen in Wolkenkuckucksheim!

Foto: NTU

2014 in Europa

Es gibt sie. Die böse, reale Welt außerhalb der heilen Eurovisionshemisphäre. Zum Beispiel in Odessa. Dort stürmte Sonntagabend ein mit Knüppeln bewaffneter Mob ein Konzert der Popdiva Ani Lorak. Die Sängerin erlangte durch ihre Teilnahme am Eurovision Song Contest 2008, wo sie den zweiten Platz mit „Shady Lady“ belegte, größere Bekanntheit in Europa und gilt in der Ukraine als eine der populärsten Künstlerinnen des Landes. Seitdem sie jedoch im Mai dieses Jahres zwei Musikpreise in Moskau entgegen genommen hatte, werfen ihr nationale Kräfte „unpatriotisches“ Verhalten vor.

Den Auftritt im Nachtclub „Ibiza“ nahmen nun 200 Randalierer – Faschisten des „Rechten Sektors“ sowie Anhänger der nationalistischen „Swoboda“-Partei – zum Anlass ihres gewaltsamen Protests. Die Nationalhymne singend und lauthals Parolen skandierend gelang es ihnen, den Lorak-Auftritt zu stören, bis schließlich mehrere Hundertschaften Polizisten eintrafen und die aufgebrachte Menge daran hinderten, den Klub anzuzünden. Trotz des Zwischenfalls wurde die Veranstaltung danach fortgesetzt.

Als Kommentar zu den Auseinandersetzungen gab das ukrainische Innenministerium derweil bekannt, in den kommenden Tagen eine schwarze Liste mit 500 (russischen) Künstlern veröffentlichen zu wollen, die künftig ein Auftrittsverbot in dem Bürgerkriegsland erhalten werden. Frau Lorak soll angeblich nicht dazu gehören.