Brot und Spiele
Category : Artikel 2015
Kaum is dieses Ding mit der australischen ESC-Teilnahme verdaut, lauert der nächste Aufreger in der Pipeline, der die Schlager-Grand-Prix-Welt von den Füßen holt. Finnland entschied sich letzten Samstag weder für die recht hochnäsigen Gitarrenhipster noch die kreischende Operndiva, sondern für die Punkband „Pertti Kurikan Nimipäivät“. Doch deren 85-Sekünder „Aina mun pitää“, der es sich so gar nicht gemütlich machen will in den eurovisionären Gehörgängen, sorgt nicht allein für verstörte Seelen. Zusätzliche Unruhe bereitet der Umstand, dass alle vier Finnen behindert sind: Down Syndrom (Trisomie 21), Williams- Syndrom, MBD und Intelligenzschwäche – dies ist das Diagnosespektrum der Bandmitglieder.
Prompt fragen sich besorgte Geister: Werden die nicht nur von infamen, geldgierigen Managern vorgeführt? Ist es fair, bei einem Gesangswettbewerb eine Behinderung medial auszuschlachten und zum eigenen Vorteil umzumünzen? Sahnen die letzten Endes tonnenweise Mitleidspunkte ab? Hat das selbst schon in die Jahre gekommene Genre Punk beim ESC überhaupt was zu suchen? Und muss nicht wenigstens der viel zu kurze Song auf eurovisionskonforme drei Minuten getrimmt werden?
Wer sich einigermaßen in der Historie des Song-Contests auskennt, wird um die unzähligen Gestalten wissen, die nach Ruhm gierten und sich dabei vor ganz Europa zum Affen machten. Während die helleren Lichter wussten: Längst reicht es nicht mehr, ein ordentliches Lied vorzutragen, um den Sieg davon zu tragen. ABBA setzen auf Glitterkostüme, Ruslana auf ne wilde Choreo und bei Conchita war es halt der Bart. Selbstverständlich ging es stets um Medienpräsenz, die – wenn nicht skandalisieren – so doch für Aufmerksamkeit sorgen sollte, damit der Kommentator am Abend in seinen Überleitungen für die Zuschauer an den Bildschirmen was zu erzählen hatte. Wer also allen Ernstes weiterhin glaubt, der ESC sei ein reiner Gesangswettbewerb, der ist schon seit Jahrzehnten auf der falschen Veranstaltung. Und damit zurück zu den Finnen: Mit welchem Recht sollten Behinderte respektive ein Punksong im Sinne gleichberechtigter Teilhabe von diesem Wahnsinn, den wir so lieben, ausgeschlossen werden?
Immer noch wird gerätselt, ob Frau Wurst auch ohne Gesichtsbehaarung gewonnen hätte. Pure Zeitverschwendung, denn solche Gedankenspielchen bringen rein gar nichts. Vielmehr wagt der eurovisionaer die kesse These, dass niemals der Song oder die Kampagne allein den bierseeligen Televoter – wahlweise den nüchternen Juror – dazu verleitet, für einen Beitrag zu stimmen. Es ist ein alberner Tanzschritt, das tolle Kleid, die atemberaubende Kamerafahrt, die Biografie des Interpreten und, und, und – eben das richtige Lied.
Es bleibt abzuwarten (und auszuhalten), ob die Band aus Finnland ein solches Gesamtpaket auf die Wiener Bühne bringen wird. Ach, und wer einen schnellen Blick auf die hauseigene Playlist der Saison wirft, der ahnt – dem eurovisionaer gefällt der PKN-Song nun gar nicht und er ist froh über dessen Kürze. So what? Berechnung? Weitaus schmerzhaftere, weil hinterfotziger kalkulierte Auswüchse von Stimmenfang bleiben da in Erinnerung, nehmen wir mal nur die udmurtischen Babuschkis oder die unzähligen Siegelschen Friedensprediger.
Formulieren wir es doch einfach positiv: Wie schön, dass auf dem für seine grenzenlose Exaltiertheit bekannten Planeten Eurovision endlich auch ein störrischer Punksong Gehör findet. Und dass seine regenbogenfarbenen Bewohner nun andere bunte Vögel kennenlernen werden. Schließlich haben sie erst vergangenes Jahr ihre Toleranzprüfung mit Summa cum laude bestanden. 2015 müssen sie sich halt einer erneuten Belastungsprobe stellen. In Akzeptanz.