Die Flamme erlischt

Die Flamme erlischt

Category : Artikel 2017

Wie so viele andere, krönt der eurovisionaer seine ESC-Leidenschaft u.a. mit dem Sammeln von mittlerweile nicht mehr zählbaren Audiotracks, die in einer irgendwie gearteten Verbindung zum Wettbewerb stehen. Einige unter ihnen markiert er als „withdrawn“, weil das Einsendeland doch noch bessere Melodien auftrieb, oder als „disqualified“, weil irgendein Regelverstoß dazu führte, dass die EBU den Beitrag nicht zum Finale zulassen wollte. Seit gestern gilt es, ein neues, zusätzliches Attribut zu finden.

Da nämlich entschied der Geheimdienst der Ukraine, Gastgeberland des Eurovision Song Contest 2017, die russische Kandidatin Julia Samoilova vom Wettbewerb auszuschließen. Sie war 2015 auf der damals von Russland annektierten Krim aufgetreten und zu diesem Zweck nicht über das ukrainische Festland eingereist. Gemäß der dortigen Gesetze ist das illegal und wird mit einem dreijährigen Einreiseverbot in die Ukraine geahndet.

Damit entscheidet erstmals in der Geschichte des ESC ein Gastgeberland darüber, ob bzw. welche Künstler am Wettbewerb teilnehmen dürfen. Die EBU verhält sich butterweich (wie schon in den vergangenen Monaten, als Kiew mit diversen organisatorischen Problemen zu kämpfen hatte), bedauert den Vorfall, verweist aber auf die Gesetzgebung in der Ukraine und katapultiert sich damit als Organisator und Schiedsrichter des Events in ein scheinheiliges Nirwana.

Hilflos bietet sie kurze Zeit später der russischen Sängerin an, per Moskauer Satellitschalte an der Sendung teilzunehmen, was Channel One Russia prompt mit Verweis auf die Wettbewerbsregularien ablehnt und auch die ukrainische Politik nicht zulassen möchte, da nach einem wiederum anderen nationalen Gesetz „unerwünschten Personen“ grundsätzlich die Teilnahme an TV-Sendungen verboten sei. In letzter Konsequenz hätte die Ukraine wohl den Samoilova-Auftritt nicht übertragen.

Die ESC-Fans bewaffnen sich derweil mit Popcorn und genießen von der heimischen Couch aus das politische Spektakel, das zunehmend der dürftigen Handlung einer Soap-Opera gleicht. Wenige haben den russischen Song in ihrer Bestenliste des Jahrgangs – so what? Andere vermuten eine von Anfang an durchsichtige Provokation Moskaus oder berufen sich ebenfalls auf die geltende ukrainische Gesetzgebung, die nun einmal eingehalten werden müsse.

Der eurovisionaer – Fan der ersten ESC-Pop-Stunde 1974 – stellt derweil kopfschüttelnd fest, zu was sein Lieblingsschlagerwettbewerb in den Händen zweier Kriegsparteien verkommen ist. Und Gründervater Marcel Bezençon dürfte sich zwischenzeitlich gar im Grabe umdrehen, glaubte er doch, dass ausgerechnet Musik die zerstrittenen Völker Europas nach dem Zweiten Weltkrieg vereinen könne, wenn diese in gegenseitigem Respekt und Anerkennung um den Grand Prix Eurovision wetteiferten.

Von diesem Ideal ist 2017 nichts mehr übrig. Schlimmer noch: es scheint auch niemanden zu stören. Lange nach der einst umjubelten Öffnung des eisernen Vorhangs fokussiert sich die Fanszene nunmehr auf Russland als ungeliebtes Adoptiv-Kind des ESC. Unvergessen die Buh-Orgie gegen die russische Teilnehmerin Polina Gagarina, die den Tränen nahe jede weitere 12-er-Wertung in der Stadthalle zu Wien fürchtete und ausgerechnet von Conchita Wurst getröstet werden musste. Grund: Die Fanschar mochte (was grundsätzlich nachvollziehbar ist) nicht im Folgejahr ins ehemalige Zarenreich reisen müssen, seitdem dort 2013 Anti-Schwulen-Gesetze verabschiedet wurden.

Wie der aktuelle Streit zeigt, haben auch heute noch viele Länder Osteuropas in Punkto Toleranz, Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz immensen Nachholbedarf. Nicht allein Russland und die Ukraine, auch Weißrussland, Azerbaidschan sowie weitere ehemalige Ostblockrepubliken können nicht das halten, was der fröhliche Sängerwettstreit als Demokratiemuster eigentlich verspricht.

Die ansonsten gerne unpolitischen ESC-Nerds wiederum tappen in eine Falle, wenn sie Landesgesetze, die vor vier Jahren in Russland noch wütend angemahnt wurden, heutzutage – nur weil sie aus der Ukraine kommen, aber gleichermaßen unsinnig sind – als gegeben akzeptieren. Denn es darf nicht Kiew überlassen bleiben, den Contest zu instrumentalisieren und darüber zu entscheiden, welche unliebsamen Teilnehmer mal eben von der Liste verbannt werden dürfen. Hierüber entschied bislang einzig die EBU.

Die wiederum macht eine mehr als unglückliche Figur und muss sich für die Eskalation der jüngsten Polit-Schmierenkomödie ganz dicke an die eigene Nase fassen. Öffnete sie doch erst im Vorjahr den Wettbewerb für politische Einflussnahme, weil sie den ukrainischen Beitrag „1944“ zuließ, der vordergründig die damalige Vertreibung der Krimtataren, zwischen den Zeilen aber ebenso die gegenwärtige russische Politik thematisierte. Das fällt ihr in der Causa Samoilova nun auf die Füsse, wenn sie einerseits den angeblich unpolitischen Charakter des Festivals hervorhebt, und sich gleichsam ukrainischen Entscheidern andient, ohne zu erkennen, welches strategische Spiel diese gerade spielen.

Seien wir ehrlich: Die Ukraine wollte 2017 von Beginn an keine Russen im ESC-Land haben. Das zuzugeben, wäre ob der EBU-Statuten unmöglich gewesen. Statt dessen reimt man sich nun irgendwelche Einreiseverbote zusammen. Den Genfer Funktionären sollte es allmählich dämmern, in welches Dilemma sie sich mit der Vergabe an Kiew begeben haben. Längst haben sie Pandoras Büchse geöffnet. Der einst friedliche Schlagerwettbewerb ist nicht mehr allein die Lachnummer des schlechten Geschmacks, die regelmäßig in irgendeinem hochnäsigen Feuilleton karikiert wird, sondern zum Austragungsort politischer Propaganda verkommen.

Wäre die EBU stark und über alle Zweifel erhaben, würde sie um ihre eigenen Prinzipien der Ukraine die Ausrichtung sofort entziehen, den Contest nach Schweden verlegen und die Russin auf die Bühne holen. Doch damit ist nicht zu rechnen – der Konjunktiv hat gewonnen.

Foto: coloneljohnbritt / Creative Commons CC BY-NC-SA 2.0

Siegeswillige Russen

Sergey Lazarev | You are the only One

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Hurra! Was zu Beginn einer jeden ESC-Saison der letzten fünf Jahre in nahezu allen europäischen Fanforen betratscht wurde, sollte im Dezember 2015 endlich wahr werden! Der TV-Sender RTR ließ verlauten, der großartige Sergey Lazarev solle das erfolgsverwöhnte Russland beim Eurovision Song Contest 2016 vertreten. Umgehend wurden Heerscharen von Komponisten, Textern, Choreografen und Stylingberater eingekauft, um dem smarten Superstar das für den Sieg nötige Material auf den etwas mopsigen, aber formvollendeten Körper zu zimmern.

Prompt ging das seit mehreren Jahren bekannte Russland-Bashing los, denn was zuletzt mit dem zweiten Platz für die in Tränen aufgelöste Polina grade noch vermieden werden konnte, ist und bleibt ein Dauerproblem. Solange der Sieger das nächste Festival ausrichten darf, will kein Fan die Russen auf dem Siegerpodest sehen, weil niemand (aus bekannten Gründen) nach Moskau oder St. Petersburg reisen will. Da ist es auch egal, welchen Topstar die Verantwortlichen ins Rennen schicken. 2016 wird also erneut gegen einen Song Stimmung gemacht, den die devote Anhängerschaft von Herzen lieben würde, käme er doch bloß aus Schweden. Tut er aber nicht und das verhasste Putin-Reich gehört – verdientermaßen, weil es auf eine verlogene Friedens-Hymne verzichtet – trotzdem mal wieder zu den heißesten Favoriten des Jahrgangs.

Bestes Mal: Dima Bilan | Believe

Letztes Mal: Polina Gagarina | A Million Voices


Kreischalarm!!!

Achtung, es folgt die ESC-Wettervorhersage! Flächendeckend kommt es derzeit europaweit zu Feuchtigkeiten in den Höschen eurovisionärer Fans, denn gestern wurde – endlich, endlich, endlich! – der Wunschtraum (fast) aller Song-Contest-Jünger offiziell bestätigt. Sergey Lazarev, Superstar zwischen St. Petersburg und Wladiwostok, soll – ach quatsch – wird in Stockholm mit einer Mega-Komposition von Dimitris Kontopoulos und Phillip Kirkorov den längst überfälligen zweiten russischen Sieg einfahren – und die ESC-Maniacos drehen schon jetzt vollends durch! Ähem…, wohlgemerkt, noch bevor sie einen Takt des Gewinnersongs gehört haben. Der wird irgendwann in den nächsten Wochen nachgeliefert. Bleibt festzuhalten: Russland will es im Wettstreit um den Song-Contest-Sieg richtig wissen! War der zweite Platz für Polina Gagarina in Wien noch so dahin gekleckert, klotzen die Osteuropäer nun mit einem musikalisch noch schwergewichtigeren Dreamteam um ihren Superstar Lazarev.

Den eurovisionaer hauen diesen Nachrichten bislang nicht vom Hocker. Er blufft sich durch die noch frühe Saison und behauptet mal ganz unverfroren, dass der Sieg momentan nur über diese estnische Melodie gehen wird… Sorry, sexy Sergey!

Foto: lazarevmusic.com / Montage: eurovisionaer

Wir sind erledigt

Vergangenen Montag war Schluss mit lustig, denn die EBU gierte nach Gewissheit und alle 40 Teilnehmerstaaten des 60. Eurovision Song Contests mussten beim traditionellen Treffen der Delegationsleiter ihre 2015-er Bewerbungen termingerecht vorlegen. Noch zwei Abende zuvor hatten die Skandigrößen Norwegen und Schweden überschwänglich die letzten nationalen Endausscheidungen der Saison zelebriert und schicken nun ihre – absehbar aussichtsreichen – Kandidaten auf die Reise nach Wien. Eben dort hatte die Alpenrepublik bereits am Freitag die Wurst-Nachfolge geregelt und einigte sich in Kümmertschen Televotingsphären auf eine sehr unaufgeregte, schöne Piano-BALLADE. Ja, „Le Chef du Blog“, sonst gar kein glühender Verehrer der gezügelten, ruhigen Töne, nimmt das Wort in den Mund, bei dem viele andere die Augen verdrehen und vom Schnarchfestival schwadronieren. Und er wiederholt sich, wenn er sagt: 2015 ist ein sehr guter Jahrgang. Ihr wisst das.

Ungefähr zeitgleich haben in Montenegro die dortigen ESC-Verantwortlichen wohl Nachhilfe in PR von den ewigen Spätzündern Russland und Aserbaidschan erhalten, denn sie legten in Genf zwar brav ihre CD auf den Tisch, baten aber um einen späteren Veröffentlichungstermin gegen Ende der Woche. Es war vorhersehbar, dass diese windige Strategie, ein wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, im Zeitalter diverser Internet-Leaks wenig Erfolg versprechend war. Bereits am Dienstag war der (typisch balkanesische) Beitrag dann auch in der Tube – und die avisierten 15 Minuten Ruhm entpuppten sich als laues mediales Strohfeuer.

Der eurovisionaer hatte derweil genügend Erledigungen im echten Leben zu tätigen, buchte außerdem einen Flug nach Wien und überlegte, womit er sich denn nun in den zwei Monaten bis zum Grande Finale die ESC-Zeit vertreiben könnte. Und natürlich machte er das, was alle Fans so lieben: mit den Freunden, die sein Hobby teilen, Ratschen bis zum Umfallen, wer denn nun zum Schluss ganz oben stehen könnte und warum wer über- oder unterbewertet ist. Ihr kennt das.

Und ganz Krone-Schmalzig wie er manchmal ist, nervte ihn eine plötzliche kleine Netz-Diskussion, die ebenso unnötig ist, wie das in diesen Stunden Schlagzeilen machende Stinkefingergate. Darf ausgerechnet Russland ein Friedenslied zur Eurovision schicken? Selbstverständlich antwortet heutzutage beinahe ein Jeder mit einem entschlossenen „Natürlich nicht!“ Und schon notiert sich der mittlerweile globalpolitisierte ESC-Fan in seinem Kalender für den 23. Mai „Buhen bei Russland“. Geht das also schon wieder los? Der eurovisionaer, der ja schon des Öfteren kundgetan hat, was er von einem solchen Quatsch hält, erinnert deshalb nur kurz an den Hauptdarsteller dieser Affäre, den Song „A Million Voices“. Von der putinschen Chargé d’Affaires Polina Gagarina (welch ein wunderschöner Name übrigens…) vorgetragen, ist er jedoch – Friedensbotschaft hin oder her – einfach viel zu belanglos, als dass man einen Pieps über ihn verlieren sollte. Heute nicht und auch nicht in neun Wochen in der Stadthalle.

Blicken wir in diesem kleinen Resümee der letzten Tage daher lieber auf jene Ereignisse, die uns stattdessen in der österreichischen Hauptstadt erfreuen werden. Unsicher, ob es den anderen Anoraks noch nicht aufgefallen ist, bemerkt der Blogger heuer zum Beispiel, wie der einstige Schlagerwettbewerb zu einem einzigen Gockel-Contest verkommt. Positiv formuliert: Vieles spricht dafür, dass wir in Wien hautnah – und das im wahrsten Sinne des Wortes –  die Wahl zum „Sexiest ESC-Man Alive“ miterleben dürfen. In der Folge ist nicht nur mit einer Flut der legendären Sockenpunkte zu rechnen. Auch der eine oder andere frisch gekürte eurovisionare Liebling wird zweifelsohne im schon an allen Ecken und Enden sprießenden Frühling 2015 Leben in die hier zuletzt ein wenig verwaiste Rubrik bringen. Da bekommt das viel zitierte „schön Hören“ eine ganz neue Bedeutung.

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Fotos: SBS, Monika Navrátilová, Stina Kase, Ziga Culiberg, Per Kristiansen, EBU. Grafik: eurovisionaer

The bad old Days

hammersichelKlassische Form von Überreaktion! Um vor dem Fernseher sitzenden Kindern nicht mehr erklären zu müssen, warum da eine Frau mit Bart singt, machen die Russen nun die Rolle rückwärts. Igor Matvienko, Moskauer TV-Produzent, plant angeblich für Oktober dieses Jahres die Wiederbelebung des Intervision Song Contest. Dieser galt zu Zeiten des Kalten Krieges als die sozialistische Antwort auf die Eurovision und wurde von 1977 bis 1980 alljährlich im polnischen Sopot ausgetragen. Eine Reaktivierung dieses Politikums wäre ein ähnlich deutliches Signal an die EBU wie das der Türken, die durch den ESC bereits lange vor Conchita ihre eigenen kulturellen Werte verletzt sahen und kurzerhand im Dezember 2013 eine Türkvizyon veranstalteten.

Homophobe aller Länder vereinigt euch, könnte man rufen, denn nun sind auch alle ehemaligen Staaten der UdSSR herzlich eingeladen, an einem weiteren reaktionären Wettsingen teilzunehmen. Und damit es auch der letzte Depp versteht, soll die russische Vorentscheidung gleich im Juni auf der Krim abgehalten werden. Zugelassen sind aber wahrscheinlich nur glatt rasierte Künstler.

Ob Matvienko mit seiner Idee durchkommt, wird sich also in den nächsten Wochen zeigen, einer breiten Unterstützung durch Politik und Gesellschaft darf er sich wohl sicher sein. Für den Eurovision Song Contest, dessen Grundgedanke auf der  Zusammenführung unterschiedlicher europäischer Kulturen basiert, wäre es eine fatale Entwicklung.


Da war doch noch was… Der ESC und die große Politik

Schande! Nein, nicht, weil Valentina im dritten Anlauf das Finale gepackt hat… Viel hinterfotziger nach Meinung des eurovisionaers das Verhalten zahlreicher Fans, als Dienstagabend in der B&W Hallerne der russische Finaleinzug bekannt gegeben wurde. Gleich ein kakophonisches Konzert von Buhrufen schallte durch die Kopenhagener Arena, denn offensichtlich wurde dieses Halbfinalergebnis in Fankreisen so gar nicht goutiert. Man mag ja auch streiten, ob die Zopf-Nummer auf der Wippe wirklich so funky war – das hätte man sich aber bei mindestens acht anderen Beiträgen ebenso fragen können. Ganz eindeutig ging es den Miesmachern nicht um musikalische Kriterien, sondern um handfeste Politik. Der seit Wochen Europa beherrschende Ukraine-Konflikt zog damit auch in die heile Eurovisionswelt ein.

Nun könnte man sagen, wen verwundert’s, wenn doch die Propagandamaschinerie der westlichen ebenso wie östlichen Medien und Regierungen seit Wochen auf Hochtouren läuft? Muss eine solch penetrante Gehirnwäsche nicht nahezu automatisch in Buhrufen münden, die dann im Rahmen einer Live-Unterhaltungssendung quer über den Kontinent ausgestrahlt werden? Die das Ideal von Völkerverständigung und friedlichem Miteinander bei einem harmlosen Gesangswettbewerb konterkarieren? Doch warum gibt sich der gemeine Eurovisionsfan, dessen Leidenschaft doch eher die große Geste oder schicke Abendroben sind, plötzlich vordergründig so politisiert?

2009, als während des Festvials auf Moskaus Straßen eine Schwulenparade gewaltsam aufgelöst wurde, waren viele konsequenterweise einfach zu Hause geblieben, die anderen jedoch feierten sich durch rauschende Euroclubpartys und schwärmten von der russischen Gigantomanie des Song Contests. Letztes Jahr in Malmö, als Putin gerade einen weiteren Stapel Anti-Homosexuellen-Gesetze erließ, schwärmte die Community von den Friedensbotschaften der russischen Sängerin Dina Garipova.

Heute, 2014, leisten die Medien ganze Arbeit, wenn es darum geht, Agitation zu betreiben. Natürlich mag es zweifellos genügend Gründe geben, Russlands Haltung in der Ukraine-Krise zu kritisieren. Doch in der Vergangenheit betonten gerade jene, die jetzt lautstark Missmut äußern, dass der Eurovision Song Contest nicht als politische Plattform mißbraucht werden dürfe. Richtig so! Im besonderen die schwule Community, zu der der eurovisionaer ja selbst gehört, könnte darauf achten, den respektvollen, vorurteilsfreien Umgang miteinander zu praktizieren und sich nicht vor irgendeinen Meinungskarren spannen zu lassen, um dessen angebliche political Correctness unbedacht aufzusaugen.

Dicke Eier in der Hose haben – gerne, aber nicht, weil es gerade mal angesagt ist, Russland zu bashen. Wenn man keinen Schimmer hat, was außerhalb der Schlagerwelt vor sich geht bzw. seine Meinung aus der BILD bezieht, sollte man besser einfach den Mund halten. Das allein hätte am Dienstagabend als Statement ja schon genügt!

Foto: EBU / Sander Hestermann

Russland ist dabei – alle 37 jetzt an Bord

Das … ähem … Demo des russischen Beitrags „Shine“ von den Tolmachevy Sisters wurde soeben veröffentlicht. Wie ESCKAZ berichtet, arbeiteten die Zwillinge, die 2006 den Juniorvision Song Contest gewonnen hatten, zusammen mit Mentor Philipp Kirkorow Tag und Nacht an der Fertigstellung ihres Beitrags, um die Abgabefrist einzuhalten (…hat bekanntlich nicht ganz geklappt). Eine ursprünglich für den 31. Dezember, dann auf Anfang März verschobene öffentliche Vorentscheidung entfiel aus unbekannten Gründen, was offenbar wiederum dazu führte, dass der Sender „Rossiya1“ improvisieren musste. Allerdings sollten wir davon ausgehen, dass der nun vorliegende Song in den kommenden Wochen noch wettbewerbstauglich aufgehübscht werden wird. Ob sich diese Mühe jedoch überhaupt lohnt, kann ernsthaft bezweifelt werden, denn der Kopenhagener Song Contest wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein politischer werden, bei dem Putins Reich gemäß der jetzigen Stimmungslage am eurovisionären Scoreboard gehörig abgestraft werden dürfte….


Bitte!!! Lass es nicht wahr sein….!

Das Netz vergisst nie. Stimmt! Das Netz hat aber auch kein Hirn, denn es bringt zuweilen Informationen an die Öffentlichkeit, die diese vielleicht gar nicht wissen wollte. In die eurovisionäre Welt übersetzt heißt das so viel wie „alljährlich im Januar oder Februar überbieten sich Hardcorefans mit den aberwitzigsten Spekulationen“. Ich spiele dieses Spiel heute mal mit. Das derzeit furchterregendste Gerücht ist wohl die Alptraummeldung, die russischen Urgroßmütter seien noch publicitygeiler geworden und wollten es ein weiteres Mal versuchen. Wer weiß, wofür sie jetzt wieder sammeln müssen? Wem ihr Genöle schon 2012 auf die Nüsse gegangen ist, sollte sich beim Klicken dieses Links besser die Ohren zuhalten.

Aber sie sind ja nicht die einzigen, die es einfach nicht lassen können. Ovi & Paula Seling, die zuletzt 2010 mit dem Feuer spielten, werden als heißer Kandidat für die rumänische Vorentscheidung am 01.03. gewettet. So heiß, dass das eigens von ihnen ins Netz gestellte Werk „Miracle“ kurzerhand wieder gelöscht wurde, auf eine Verlinkung muss ich daher an dieser Stelle verzichten. Den vor Neugierde platzenden werten Lesern sei an dieser Stelle jedoch versichert, dass es sich dabei wohl um einen Akt der Nächstenliebe handelt und er / sie froh sein darf, wenn dieses Liedgut weitere sechs Wochen unter Verschluss gehalten wird.

Ein wenig anders verhält es sich mit United Kingdom of Rock. Die britische Pub-Metal-Band überschüttet dieser Tage Pressevertreter mit selbst verfassten Mitteilungen, die immer gleich lauten: Das Vereinigte Königreich brauche endlich wieder einen Erfolg bei Song Contest und daher käme UKR wie gerufen, um an die glorreichen Zeiten anzuknüpfen. Demzufolge weich geklopft sei die BBC, denn – so der Sänger Matt Fielder – in der engeren Auswahl seien nur noch Geri Halliwell und eben UKR (ok, einige Fanboys fantasieren ebenfalls und träumen von Olly Murs). Ungeschickt ist die Kampagne nicht, die an Guildo Horns Feldzug der Liebe anno 1998 erinnert, und schlechtere Songs gabs auch schon von der Insel. Foto: Flickr/Leo Reynolds


…endlich!

endlichleer
Offensichtlich will der Eurovision Song Contest doch nicht in seiner partylauningen Blase verharren und wagt einen Schritt nach draußen in die reale Welt. Wie der „Stern“ heute online berichtet, hat die für den Wettbewerb zuständige Reference Group der EBU den russischen Sendern „Channel One“ und „RTR“ ein Schreiben zukommen lassen, in dem die Intendanten aufgefordert werden, Fragen zur Sicherheit der Teilnehmer und Besucher sowie der künstlerischen Freiheit im Falle einer Austragung des Song Contests in Russland zu beantworten.

„Wir haben uns zu diesem Schritt entschlossen, weil einige große Delegationen massive Sicherheitsbedenken haben“, sagt NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber, der für Deutschland in dem Lenkungsausschuss sitzt, „darunter auch Deutschland“.

Dabei ist der Fragenkatalog wohl als vorzeitige Warnung zu verstehen, denn der beschriebene Fall könnte frühestens nach einem Sieg Russlands 2014 in Kopenhagen eintreten. Zu den Bedenkenträgern zählen u. a. Deutschland und Schweden. Die Skandinavier wollen im Fall, dass die Vorbehalte nicht ausgeräumt werden, der Veranstaltung fernbleiben. Ein solcher Boykott wird in der deutschen Delegation ebenfalls diskutiert. Hintergrund sind die am 30.06.2013 erlassenenen russischen Gesetze, die jegliche positiven Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien unter Strafe stellen.

„Dies widerspreche dem Wertekatalog der Europäischen Fernsehunion EBU, der vor einem Jahr verabschiedet wurde. Demnach soll der Schlagerwettbewerb „ein öffentlicher Raum sein, in dem alle Bürger ihre Meinung frei äußern können.“

Bravo! Damit hätte ich nicht gerechnet! Und nicht gerade selten habe ich mich an dieser Stelle über die Tatenlosigkeit der EBU ausgelassen. Schließlich hatte Frank-Dieter Freiling, ebenfalls Mitglied des Lenkungsauschusses, vor kurzem in einem Interview zwar von der Briefzustellung nach Moskau berichtet, zugleich aber wenig Handlungsspielraum eingeräumt, bestimmte Länder im Voraus auszuschließen:

„[…] gucken wir uns alle der möglichen teilnehmenden Länder an, ist bestimmt ein Viertel auf einer der Listen, die in diesen Ländern Verstöße gegen für uns selbstverständliche Prinzipien wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit und so weiter vermelden.“

Demzufolge ist der Brief hoffentlich als Rundschreiben ebenso nach Minsk, Baku, Chisinau und in alle anderen Staaten, die die Achse des eurovisionär Bösen darstellen, unterwegs!

Grafik: Wikimedia Commons