2015 – Wien oder Amsterdam?

2015 – Wien oder Amsterdam?

vor finaleleer
Endlich, der große Tag ist gekommen! Heute Abend findet der 59. Eurovision Song Contest in Kopenhagen statt. Entgegen mancher Erwartung haben die Dänen außergewöhnlich kreative Shows produziert und dem Contest der 10-er Jahre ein neues Gesicht gegeben, auf das wir uns freuen dürfen.

Gegen 24 Uhr wird also die diesjährige Gewinnernation, die wiederum in 12 Monaten einen weiteren „Jubiläums-Grand-Prix“ ausrichten darf, feststehen. Wie in kaum einem anderen Jahrgang sind in den vergangenen Wochen die Favoriten auf den Sieg gekommen und gegangen. Nicht nur das macht die heutige Entscheidung so ungemein spannend, denn sie bleibt auch weiterhin offen wie nie. Schien Armeniens recht sperriger Künstler Aram Mp3 vor Wochen noch mit einer Wettquote von 1.0 als „Schlager“-Europameister eindeutig festzustehen, so haben sich erwartungsgemäß die erfolgsverwöhnten Schweden mit der Sängerin Sanna Nielsen stetig herangearbeitet. Auch Ungarn, bereits im letzten Jahr mit „Kedvesem“ der – Achtung Pathos! – Sieger der Herzen, hat mit „Running“, einem Song gegen Kindesmißhandlung, erneut einen textlich und musikalisch starken Beitrag in das 2014-er Rennen geschickt.

Doch der ESC ist keine Fußball-EM. In seinem Finale kämpfen nicht zwei, sondern 26 Nationen um den Titel. Nach der Probenwoche und den Halbfinals in Dänemarks Hauptstadt ist nichts mehr wie es vorher noch war. Schossen am Dienstag die niederländischen „Common Linnets“ in die Spitzenränge der I-Tunes-Listen Europas, so war es am Donnerstag die Frau mit dem Bart, Conchita Wurst aus Österreich, die die alte Werfthalle in Kopenhagen nicht allein zum Toben, sondern zum Wackeln brachte.

Der eurovisionaere Tipp: Heute Nacht wird es einen eindeutigen Sieg entweder für die Niederlande oder für Österreich geben. Noch wird gerätselt, wie die Dragqueen in Osteuropa abschneiden wird, wo es in den vergangenen Monaten Forderungen gab, die Livesendung während des Auftritts des Wiener Künstlers Tom Neuwirth auszusetzen. Im eigenen Heimatland wurde die Sängerin als „Kreatur“ beschimpft, die Schande über die Nation bringe. Ich vermute, der gesamte Kontinent wird sich toleranter zeigen, als wir es jetzt noch denken. Sei es, weil er für unglaublich entspannte, wunderschöne Countrymusik aus Holland und / oder eben für den Act mit der Stimme und der Gesichtsbehaarung votet. In 24 Stunden sind wir alle klüger.

Foto: EBU / Andreas Putting

Aus 16 mach 10

Potzblitz, wer hätte das gedacht, Valentina, das immer wiederkehrende Murmeltier des ESC, hat es endlich geschafft! Maybe lag es daran, dass unser Liebling Ralph erst persönlich auf die Bühne musste, damit San Marino der allererste ESC-Finaleinzug glückt. Grandios die Niederländer, die jetzt am Samstag gar den Vorjahreserfolg von Anouk überbieten können. Ganz großes Kino! Etwas weniger herausragend Ungarn, aber wie erwartet ebenfalls oben dabei. Der Rest war eurovisionäres Mittelmaß oder schlicht zum Davonlaufen, wie z.B. die nervtötende Endlosschleife aus Portugal und Mamas Junge Axel aus Belgien. Gut, dass die perfekte TV-Inszenierung der Dänen so vieles übertüncht und das maue musikalische Angebot in den Hintergrund rückt. Übermorgen dann das vom Papier stärkere Semifinale zwei. Gute Nacht Europa!

ARM Armenien Aram mp3 Not alone
 SWE Schweden Sanna Nielsen Undo
 ICE Island Pollapönk No Prejudice
 RUS Russland Tolmachevy Sisters Shine
 AZB Aserbaidschan Dalira Start a Fire
 UKR Ukraine Maria Yaremchuk Tick-Tock
 SNM San Marino Valentina Monetta Maybe
 NL Niederlande The Common Linnets Calm after the Storm
 MNE Montenegro Sergej Ćetković Moj Svijet
 HUN Ungarn Kallay Saunders András Running

Schweden-Schlager gefährden Ihre Gesundheit!

Blaue und gelbe Luftballons, Kempe-Kempe-Kempe und Melloschlager bis zum Abwinken. Wieder einmal quälten die erfolgsverwöhnten Schweden ihre Anhänger 2014 durch eine Reihe an Vorrunden und Second-Chance-Absurditäten. Die skandinavische Vorentscheidungsprozedur, mittlerweile zum heimischen Kulturgut wie Knäckebrot und Pippi Langstrumpf gehörend, hatte auch zum gestrigen Finale die seit Jahren gleichen Zutaten aus dem Hut gezaubert. Einzig die trotz Autotuning durchweg schräge Töne produzierende Schar an Teeniestars – offensichtlich ein Tribut an die pubertierende Zuschauerschaft – schien ein neues Showelement aus dem Hause Björkman zu sein. Peinlicherweise wurden gerade die jungen Acts fast ausnahmslos von den eigens befragten internationalen Jurys ignoriert: was blieb, war der Triumph der Alt-Veteranen in der angeblich besten Vorentscheidung Europas.

Das Retortentrio Alcazar, ranzig wie uralter Käse, präsentierte den seit Jahren ewiggleichen Discomief, der mit Clubsounds so viel zu tun hat wie Ralph Siegel mit Beethoven. Wie immer Platz drei. Daneben eine im wahrsten Sinn des Wortes leibhaftige Eurovisionssiegerin: Helena Paparizou, der man anmerkte, dass sie sich recht widerwillig gezwungen sah, irgendeine versteckte Klausel ihres Schallplattenvertrags in dem mello-fanatischen Land zu erfüllen (Lustlosigkeit gleicht jedoch Spielverderberei und wird nicht mit einer Topplatzierung belohnt). Und natürlich Sanna Nielsen, die bei eingefleischten Fans seit Ewigkeiten für nasse Höschen sorgt und es im siebten (!) Anlauf nun endlich schaffte, die Hitparade der Schlagerbelanglosigkeiten anzuführen. Wahrscheinlich, weil ihr Beitrag „Undo“ eine nicht ganz so schmerzliche Körperverletzung darstellte wie der Rest der sogenannten Melodien. Und dann außer Konkurrenz dazwischen ein ABBA-Medley, das an den Durchbruch der vier Skandinavier vor 40 Jahren erinnern sollte. Leider war auch das (von ehemaligen Mello-Gewinnern vorgetragen) so süßlich-klebrig, dass einem speiübel werden konnte. Die Geehrten mochten es wohl geahnt haben, denn sie ließen sich in diesem musikalischen Kabinett des Grauens erst gar nicht blicken. Fazit: No, thank you for this Music!