We are unstoppable

We are unstoppable

conchita von unten

leer
Europa hat in der Nacht von Samstag auf Sonntag ein Zeichen gesetzt. Von Helsinki bis Lissabon, von Reykjavík bis Moskau. Ja, auch Russland hat Punkte nach Österreich geschickt (unsere reaktionäre deutsche Jury jedoch leider nicht)! Alles nur ein Sieg der das Festival liebenden Gay Community? Nein, denn so viele Homos kann es beim besten Willen europaweit gar nicht geben. Hatten die zumeist heterosexuellen Zuschauer auf den unzähligen alkoholschwangeren Eurovisionspartys zu tief ins Glas geschaut, ohne zu wissen für wen sie da abstimmen? Ebenso nein, denn dann hätte ja die – herrlich selbstironische – polnische Titteninvasion siegen müssen. Die Wiener Kunstfigur Conchita Wurst hat gewonnen, weil sie eine Botschaft hatte. Weil ihre Stimme für eurovisionäre Verhältnisse wirklich gut war. Weil ihr Song überzeugen konnte. Weil sie auf Hamsterräder und runde Klaviere verzichtete. Weil ihre dramatischen Gesten so perfekt einstudiert waren und hohen Unterhaltungswert hatten. Und eben weil sie einen Bart trägt.

Die Wurst reckte bei der Siegerehrung in Tränen aufgelöst ihre Faust zum Dach der 60 Meter hohen B&W Hallerne. Da hatte sich einiges angestaut: Nachdem der ORF im September vergangenen Jahres ihre Direktnominierung bekanntgegeben hatte, beschimpfte der österreichische Internetmob sie pausenlos als „häßliche perverse Mißgeburt“. Die Künstlerin blieb trotz der Hetze souverän und erklärte wiederholt ihr Credo: „Einzig und allein der Mensch zählt, jeder soll sein Leben so leben dürfen, wie er es für richtig hält, solange niemand zu Schaden kommt.“ Jetzt, zwei Tage nach dem Contest, entzündet sich – auch in deutschen Foren – erneut eine Diskussion. Wie schon beim Hitzlsperger-Outing schreit die heterosexuelle Mehrheit verschreckt auf und fürchtet eine Regentschaft der Schwulen, womöglich unter der Führung der autoritären Kaiserin Conchita.

Die Diskussion belegt, das Wurstsche Plädoyer für Respekt und Toleranz ist noch nicht ganz beim Volk angekommen, denn um die explizite Diskriminierung Homosexueller geht es zwar auch – aber eben nicht nur. Und der Sieg einer Dragqueen bedeutet beileibe nicht „das Ende Europas“, wie russische Politiker heute schwadronieren, denn für ein solches sorgen dieser Tage dickköpfige Politiker in West und Ost alleine. Die Wurst: das ist kein Trash, kein Kitsch, lediglich die Bitte um Achtung für die, die anders sind als die anderen, steht im Zentrum dieses Acts – man könnte auch ganz einfach konstatieren, es geht um Individualität. Und wer ist schon freiwillig so dumm, nicht einzigartig sein zu wollen? An dieser Stelle sollte sich übrigens auch die eurovisionäre – überwiegend schwule – Gemeinschaft noch einmal fragen, ob sie Conchitas Message wirklich verstanden hat. Wie schon im Semifinale war sich das (Final-)Publikum nämlich erneut nicht zu blöd, zu pfeifen respektive zu buhen, was das Zeug hält, als die Russen das Schlagerkarussell bestiegen.

Doch es gab eine weitere Überraschung, die mich am Samstag schier ausrasten ließ und die ich der betulichen Eurovision zwar zuvor prophezeit, aber bei vollem Verstand dennoch nie erwartet hatte. Der hypnotisch einfache, fernsehtechnisch wunderschön inszenierte Beitrag der Niederländer war lange Zeit ernstzunehmender Konkurrent für Conchita im Wettstreit um die europäische Popmusikmeisterschaft und landete schlussendlich auf Rang zwei. Seitdem beherrscht „Calm after the Storm“ die paneuropäischen Singlecharts. Das üblicherweise sonst gerne inszenierte Affentheater mit Tänzern, Requisiten und artistischen Einlagen, welches häufig von abgrundschlechten Kompositionen ablenken soll, landete unter „ferner liefen“. Bei allem Trara um Gesichtsbehaarung – auch aus musikalischer Sicht (und ganz im Sinne Conchitas) ist das ein sehr versöhnlicher Abschluss des diesjährigen ESC in Kopenhagen. Noch treffendere Worte findet der Kopfkompass im „Freitag„, der sich bereits gestern äußerst feinsinnig mit dem Phänomen Wurst beschäftigte:

Entspannt euch. Seid Kinder. Spielt. Überkommt eure Hemmungen, wenigstens ein bisschen, und seid was euch gefällt. Wenn euch Haare unter den Armen wachsen oder auf den Wangen, dann ist das cool. Und wenn nicht, dann ist das auch cool. Und wenn ihr Lipgloss mögt dann tragt welchen, auch wenn ihr im Stehen pinkelt.

Foto: EBU / Andreas Putting


Europe is watching you

Eine Losung, die in anderen Kontexten eher furchteinflößend gewirkt hätte, zeigte am vergangenen Samstag, dass zwar nicht ganz Deutschland, aber zumindest dessen 2011-er Moderatorin Anke Engelke Eier in den Hosen hatte. Während die um den Eurovision Song Contest 2012 in Baku begleitende journalistische Berichterstattung  zunehmend auf das Thema Menschenrechtsverletzungen in dem autoritär beherrschten Gastgeberland fokussierte, wurde im Rahmen der eigentlichen Live-Sendung über nahezu drei Stunden die Chance vertan, auf eben diese Missstände hinzuweisen. Doch dann wurde kurz vor Schluss als 38. von 42 Wertungen jene aus Deutschland abgerufen:

Nun mag man vielleicht über die Formulierung streiten, oder darüber, dass ausgerechnet Deutschland mal wieder den Zeigefinger erhoben hat… Fakt ist: Aserbaidschan hat alles dafür getan, sich der Öffentlichkeit als europäisch, weltoffen und modern zu präsentieren. Dennoch konnte die Hochglanzshow nicht verdecken, dass vor der Arena friedliche Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und kritische Journalisten zusammengeschlagen wurden. Für den Bau der Baku Crystal Hall wurden Bürger vertrieben und zwangsumgesiedelt.

Den Besuchern der Show wurde per Ticketaufdruck mitgeteilt, es sei verboten, andere Flaggen als die der teilnehmenden Nation mitzubringen (z.B. die Armeniens oder die sicherlich gut zur Veranstaltung passende Regenbogenfahne). Und ähnlich wie 2009 in Moskau wurden die vorderen Zuschauerreihen nicht ganz zufällig vornehmlich mit jubelnden weiblichen Fans besetzt.

Doch haben all diese Anmerkungen im Umfeld eines banalen Schlagerfestivals eine Berechtigung? Haben nicht nahezu alle Nationen ihre Künstler nach Baku entsandt? Hat sich nicht die deutsche Firma Brainpool gerühmt, den fetten Zuschlag für die Produktion erhalten zu haben? Hat nicht die EBU bis zuletzt mit dem Regime Aliyev kooperiert? Haben wir Fans nicht alle unseren eurovisionären Spaß gehabt?

Nein, die Show hätte nicht einer blödsinnigen Regel gehorchend an Aserbaidschan vergeben werden müssen, denn wir wissen seit Jahren, dass die Aseris (und nicht nur die) weniger am musikalischen paneuropäischen Wettbewerb als an der politischen Plattform interessiert sind, die er bietet. Wir wissen, dass die niedlichen Babushkis nur davon ablenken sollen, dass es im „Beinahe-Austragungsland 2013“, Russland, nunmehr per Gesetz verboten ist, alleine schon das Wort „schwul“ auszusprechen. Wir wissen, dass die Sicherheit der Contestbesucher 2008 in Belgrad lediglich über unzählige Hundertschaften Polizisten gewährleistet werden konnte.

Es gibt kein Medienereignis, dass dermaßen von Homosexuellen aus allen Ecken der Welt vereinnahmt und verehrt wird wie der Eurovision Song Contest. Die meisten von ihnen achten Werte wie Freiheit und Toleranz und selbstverständlich sollten gerade sie diese propagieren dürfen. Dadurch wird der Wettbewerb beileibe nicht politisiert, sondern vielmehr auf sein völkerverständigendes Ausgangsmoment zurückgeführt.

Einige EBU-Mitglieder (darunter aus Schweden, Norwegen, aber auch aus Großbritannien) wollen in Kürze einen Antrag einbringen, dass assoziierte Länder aus dem Verbund ausgeschlossen werden können, wenn sie demokratische Grundrechte wie beispielsweise die Rede- und Pressefreihet nicht achten. Zeiten der Eurovisions-Rekordteilnehmerzahlen und abenteuerliche Interviewübersetzungen wie im folgenden Beispiel wären dann endgültig Geschichte:

Doch bis es soweit ist, sind wir dankbar für den kleinen Einwurf von Frau Engelke, der wie ein dicker stinkiger Furz eines ungezogenen Mädchens das ach so glamouröse Fest – wenn auch nur kurz – unterbrach.