Die Flamme erlischt

Die Flamme erlischt

Category : Artikel 2017

Wie so viele andere, krönt der eurovisionaer seine ESC-Leidenschaft u.a. mit dem Sammeln von mittlerweile nicht mehr zählbaren Audiotracks, die in einer irgendwie gearteten Verbindung zum Wettbewerb stehen. Einige unter ihnen markiert er als „withdrawn“, weil das Einsendeland doch noch bessere Melodien auftrieb, oder als „disqualified“, weil irgendein Regelverstoß dazu führte, dass die EBU den Beitrag nicht zum Finale zulassen wollte. Seit gestern gilt es, ein neues, zusätzliches Attribut zu finden.

Da nämlich entschied der Geheimdienst der Ukraine, Gastgeberland des Eurovision Song Contest 2017, die russische Kandidatin Julia Samoilova vom Wettbewerb auszuschließen. Sie war 2015 auf der damals von Russland annektierten Krim aufgetreten und zu diesem Zweck nicht über das ukrainische Festland eingereist. Gemäß der dortigen Gesetze ist das illegal und wird mit einem dreijährigen Einreiseverbot in die Ukraine geahndet.

Damit entscheidet erstmals in der Geschichte des ESC ein Gastgeberland darüber, ob bzw. welche Künstler am Wettbewerb teilnehmen dürfen. Die EBU verhält sich butterweich (wie schon in den vergangenen Monaten, als Kiew mit diversen organisatorischen Problemen zu kämpfen hatte), bedauert den Vorfall, verweist aber auf die Gesetzgebung in der Ukraine und katapultiert sich damit als Organisator und Schiedsrichter des Events in ein scheinheiliges Nirwana.

Hilflos bietet sie kurze Zeit später der russischen Sängerin an, per Moskauer Satellitschalte an der Sendung teilzunehmen, was Channel One Russia prompt mit Verweis auf die Wettbewerbsregularien ablehnt und auch die ukrainische Politik nicht zulassen möchte, da nach einem wiederum anderen nationalen Gesetz „unerwünschten Personen“ grundsätzlich die Teilnahme an TV-Sendungen verboten sei. In letzter Konsequenz hätte die Ukraine wohl den Samoilova-Auftritt nicht übertragen.

Die ESC-Fans bewaffnen sich derweil mit Popcorn und genießen von der heimischen Couch aus das politische Spektakel, das zunehmend der dürftigen Handlung einer Soap-Opera gleicht. Wenige haben den russischen Song in ihrer Bestenliste des Jahrgangs – so what? Andere vermuten eine von Anfang an durchsichtige Provokation Moskaus oder berufen sich ebenfalls auf die geltende ukrainische Gesetzgebung, die nun einmal eingehalten werden müsse.

Der eurovisionaer – Fan der ersten ESC-Pop-Stunde 1974 – stellt derweil kopfschüttelnd fest, zu was sein Lieblingsschlagerwettbewerb in den Händen zweier Kriegsparteien verkommen ist. Und Gründervater Marcel Bezençon dürfte sich zwischenzeitlich gar im Grabe umdrehen, glaubte er doch, dass ausgerechnet Musik die zerstrittenen Völker Europas nach dem Zweiten Weltkrieg vereinen könne, wenn diese in gegenseitigem Respekt und Anerkennung um den Grand Prix Eurovision wetteiferten.

Von diesem Ideal ist 2017 nichts mehr übrig. Schlimmer noch: es scheint auch niemanden zu stören. Lange nach der einst umjubelten Öffnung des eisernen Vorhangs fokussiert sich die Fanszene nunmehr auf Russland als ungeliebtes Adoptiv-Kind des ESC. Unvergessen die Buh-Orgie gegen die russische Teilnehmerin Polina Gagarina, die den Tränen nahe jede weitere 12-er-Wertung in der Stadthalle zu Wien fürchtete und ausgerechnet von Conchita Wurst getröstet werden musste. Grund: Die Fanschar mochte (was grundsätzlich nachvollziehbar ist) nicht im Folgejahr ins ehemalige Zarenreich reisen müssen, seitdem dort 2013 Anti-Schwulen-Gesetze verabschiedet wurden.

Wie der aktuelle Streit zeigt, haben auch heute noch viele Länder Osteuropas in Punkto Toleranz, Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz immensen Nachholbedarf. Nicht allein Russland und die Ukraine, auch Weißrussland, Azerbaidschan sowie weitere ehemalige Ostblockrepubliken können nicht das halten, was der fröhliche Sängerwettstreit als Demokratiemuster eigentlich verspricht.

Die ansonsten gerne unpolitischen ESC-Nerds wiederum tappen in eine Falle, wenn sie Landesgesetze, die vor vier Jahren in Russland noch wütend angemahnt wurden, heutzutage – nur weil sie aus der Ukraine kommen, aber gleichermaßen unsinnig sind – als gegeben akzeptieren. Denn es darf nicht Kiew überlassen bleiben, den Contest zu instrumentalisieren und darüber zu entscheiden, welche unliebsamen Teilnehmer mal eben von der Liste verbannt werden dürfen. Hierüber entschied bislang einzig die EBU.

Die wiederum macht eine mehr als unglückliche Figur und muss sich für die Eskalation der jüngsten Polit-Schmierenkomödie ganz dicke an die eigene Nase fassen. Öffnete sie doch erst im Vorjahr den Wettbewerb für politische Einflussnahme, weil sie den ukrainischen Beitrag „1944“ zuließ, der vordergründig die damalige Vertreibung der Krimtataren, zwischen den Zeilen aber ebenso die gegenwärtige russische Politik thematisierte. Das fällt ihr in der Causa Samoilova nun auf die Füsse, wenn sie einerseits den angeblich unpolitischen Charakter des Festivals hervorhebt, und sich gleichsam ukrainischen Entscheidern andient, ohne zu erkennen, welches strategische Spiel diese gerade spielen.

Seien wir ehrlich: Die Ukraine wollte 2017 von Beginn an keine Russen im ESC-Land haben. Das zuzugeben, wäre ob der EBU-Statuten unmöglich gewesen. Statt dessen reimt man sich nun irgendwelche Einreiseverbote zusammen. Den Genfer Funktionären sollte es allmählich dämmern, in welches Dilemma sie sich mit der Vergabe an Kiew begeben haben. Längst haben sie Pandoras Büchse geöffnet. Der einst friedliche Schlagerwettbewerb ist nicht mehr allein die Lachnummer des schlechten Geschmacks, die regelmäßig in irgendeinem hochnäsigen Feuilleton karikiert wird, sondern zum Austragungsort politischer Propaganda verkommen.

Wäre die EBU stark und über alle Zweifel erhaben, würde sie um ihre eigenen Prinzipien der Ukraine die Ausrichtung sofort entziehen, den Contest nach Schweden verlegen und die Russin auf die Bühne holen. Doch damit ist nicht zu rechnen – der Konjunktiv hat gewonnen.

Foto: coloneljohnbritt / Creative Commons CC BY-NC-SA 2.0

Super-Christer rettet Eurovisionia!

BZZZZ Rücktritt des Organisationsteams, Verwirrung um Fantickets, Durcheinander beim Ticketverkauf und ein Organisationsplan, der um Wochen hinterherhinkt – in der Ukraine geht’s drunter und drüber.

Kein Wunder, dass nun ausgerechnet die Schweden, die stets so tun, als hätten sie den Song Contest erfunden, den Laden aufräumen sollen. ÄCHZ! Christer Björkman, ESC-Guru und seit Menschengedenken Mellotropolis-Chef, nimmt …ZOOOM Kurs Richtung Kiew, damit die eurovisionäre Bevölkerung endlich wieder ruhig schlafen kann. Zuletzt waren dort nämlich nicht wenige zarte Schlagerseelen von hartnäckigen Alpträumen befallen, der ukrainische Wettbewerb 2017 könne einem noch nie dagewesenen Organisationskollaps erliegen …WHOOOM, und prompt in kollektive Massenpanik verfallen! Lange genug war gezögert worden, nun gilt es, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften Schlimmeres zu verhindern! TA-DAAH!

Für Super-Christer eine nahezu unlösbare Mission, schließlich bleiben ihm lediglich drei Monate Zeit, …ZACK den maroden Planeten zu retten. Doch der Godfather of Eurovision hat Superkräfte, den MEGA-Durchblick und ist nie um eine ESC-Neuerung verlegen. Vertrauensvoll legen wir unser Schicksal in seine erfahrenen Hände, auch dann, wenn er vermutlich erst in letzter Sekunde die ESC-Bombe entschärfen können wird …TICK TACK.

Nur, dass ausgerechnet die verpeilten Ukrainer selbst ihn zur Rettung abkommandiert haben sollen, das liebe EBU, …KCHHHH glaubt euch ja wohl keiner, der sich durch unzählige Superman-Filme geguckt hat. BLINK! Sei’s drum – denn auch wenn wohl der müde Ältestenrat in seiner kuschligen Genfer Zitadelle ordentlich nachgeholfen hat – Eurovisionia wird gerettet! Das allein zählt! YAHOOO!

Grafik: comicvine / Montage: eurovisionaer

Kiew im Chaos

Hoppla! Drei Monate vor dem Contest tritt das gesamte ukrainische Produktionsteam um Victoria Romanova und Oleksandr Kharebin zurück. In einer heute gemeinsam veröffentlichten Stellungnahme verweisen sie auf Strukturen innerhalb des nationalen TV-Senders UA:PBC. Dort seien seit der Bestellung des neuen Intendanten Pavlo Hrytsak im Dezember 2016 kreative Prozesse beschnitten und Entscheidungen verzögert worden.

Nahezu gleichzeitig gab UA:PBC auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz bekannt, dass alle Vorbereitung nach Plan verliefen und morgen, 14.02.2017, der (zuletzt mehrfach verschobene) Ticketverkauf starte. Angesichts des Planungschaos ist zu vermuten, dass mit dieser Ankündigung einer Verlegung des Wettbewerbs in eine andere europäische Stadt vorgebeugt werden soll.

Die EBU hat zwischenzeitlich beide Meldungen bestätigt – ohne einen weiteren Kommentar zu den Geschehnissen in der Ukraine abzugeben. Nach Meinung von Experten hat sie zu lange an Kiew fest gehalten, so dass es nunmehr in der Kürze der Zeit schwierig werden dürfte, die Festival-Logistik einem anderen europäischen TV-Sender zu übertragen (wenngleich das ukrainische Fernsehen für genau diesen Fall 15 Millionen Euro an Sicherheiten hinterlegen musste). Möglicherweise werde sie daher auf ein paneuropäisches Produktionsteam drängen, das die Übertragung des Events im Mai gewährleisten soll – es allerdings in Kiew belassen.

Update: Später am Abend erreicht die eh schon aufgelöste Fanschar eine weitere Hiobsbotschaft. Anders als in den Vorjahren erhalten die OGAE-Fanclubs weder Ticketkontigente noch die heißbegehrten Fan-Akkreditierungen, die in den Vorjahren der stalkenden Anhängerschaft Zugang zum Euroclub ermöglichten. Allmählich wird wohl der letzten treuen Seele klar, was die ukrainischen Organisatoren im Schilde führen, indem sie die stets so freudig erregten, fröhlich verkleideten – leider aber auch zumeist erkennbar schwulen – ESC-Maniacos  aus dem Bühnenvorraum verdrängen – sie wollen (wie schon ihre Moskauer Kollegen 2009) ein möglichst heterosexualisiertes, dem eigenen, eingeschränkten Weltbild entsprechend durchchoreografiertes Wettbewerbsszenario erschaffen, welches die werte Bildregie am 13. Mai bitteschön in alle Welt übertragen darf. Danke, liebe EBU, dass du dich von Beginn an auf diese Schmierenkömodie eingelassen und deine treue LGBT-Gefolgschaft verraten und verkauft hast!



Kiew 2017 – eine schwere Geburt

Endlich! Die quengelnde ESC-Community darf aufatmen, denn nach gefühlten achtunddreißig ergebnislosen Versuchen hat sich der ukrainische TV-Sender NTU heute dazu durchgerungen, den Song Contest 2017 im schmucklosen International Exhibition Centre der Hauptstadt Kiew zu veranstalten.

Und doch bleiben mit dem nun getroffenen Beschluss eine Menge Fragen offen, die das Drama der vergangenen Wochen immer wieder aufs Neue anheizten: Gab es hinter den Kulissen Stress mit der EBU, die die notwendige Überdachung des Chernomorets Stadium in Odessa längst einem Schweizer Investor versprochen hatte? Oder war die langwierige Entscheidungsfindung doch eher in landestypischen Politmauscheleien begründet? So wortreich die Osteuropäer auch gerne argumentieren, wir werden es vorerst wohl nicht erfahren.

Doch Vorsicht – wer jetzt erleichtert aufatmet, sollte sich lieber darauf einstellen, dass uns auch die nächsten Monate noch so einige ukrainische Extravaganzen den ach so empfindlichen ESC-Nerv rauben werden. Da bleibt nur zu wünschen: Keep calm and love Eurovision!


Brot und Spiele

Selbst schuld. In der Nacht zum 15. Mai hatte sich das vereinte Schlagereuropa in einem Anflug von bislang ungewohnter Ernsthaftigkeit dazu entschlossen, einen auf politisch korrekt zu machen, wählte die anti-russische Krim-Gedächtnisnummer „1944“ in einem neuerdings inflationären Wertungsmarathon auf Platz 1 und gab dem Siegerland Ukraine als Hausaufgabe auf den Weg, den nächsten Contest 2017 bitteschön auszurichten.

So wollen es die wettbewerbseigenen Regularien, die der Gründungsvater Marcel Bezençon vor mehr als 60 Jahren zu Papier brachte. Nicht ahnend, dass nun – Mitte der weltpolitisch instabilen 2010-er Jahre – ein Land, das zu den ärmsten Europas zählt, sich in einem Bürgerkrieg befindet und Schwierigkeiten hat, eine freiheitlich demokratische Grundordnung herzustellen, dazu gedrängt wird, kommenden Mai den stets schrillen Gesangswanderzirkus zu beherbergen.

Doch hey, was machen die Ukrainer? Anstatt zu sagen „Sorry, aber wir haben gerade andere Probleme“ und die Ausrichtung des über die Jahre monströs gewachsenen und daher immer kostspieligeren Schlagerfestivals dankend abzulehnen, buhlen sie unverhohlen um Respekt und Anerkennung der Westeuropäer, indem sie weit im Vorfeld des zu erwartenden paneuropäischen TV-Traras ein eigenes mediales Spektakel eintüten. Unter dem – wohl der derzeitigen nationalen Rhetorik geschuldeten – martialischen Titel „Kampf der Städte“ schicken sie sechs Metropolen in den Ring, die sich demnächst mit eurovisionärem Flair aufhübschen wollen und dafür der staunenden Öffentlichkeit ihre infrastrukturellen Vorzüge in eigens produzierten TV-Sendungen präsentieren müssen.

Doch diese Form der ESC-Prostitution ist nicht ganz neu. Was noch 2011 in Düsseldorf hinter verschlossenen Türen gemauschelt, in Aserbaidschan ein Jahr später erst gar nicht hinterfragt wurde, entwickelte sich in den letzten Jahren zu einer größeren Herausforderung, als letztlich den zu Song Contest zu gewinnen: die ideale Lokalität für das Wettsingen zu finden. (Mehr über des Autors abgrundtiefe Abneigung gegenüber diesem nunmehr murmeltiergleich jedes Jahr aufs Neue nervenden Thema kann übrigens hier nachgelesen werden).

Die Anforderungen, die die Bewerber zur Krönung als ESC-Hauptstadt 2017 erfüllen müssen, werden von der EBU festgelegt. Sie sind nicht ohne und lassen sich dennoch an fünf Fingern abzählen:

  • zuvorderst braucht es eine Halle, die eine Kapazität für mindestens 7.000 Personen besitzt,
  • die sinnigerweise zudem über ein Dach verfügt (sonst wäre es ja auch keine Halle, sondern ein Stadion),
  • das Ganze bitte in direkter Nähe zu einem Pressezentrum für rund 1.500 Journalisten (oder solche, die sich dafür halten),
  • die wiederum mit den dann ebenfalls anwesenden Funktionären und Künstlern (schwupps sind das schon 3.000 Akteure) zu Beginn der Festivalwoche an einem stattlichen Ort (idealerweise ein altes Rathaus oder ähnliches) zu einem Sekt- Willkommensempfang paradieren können.
  • Abschließend verfügt die ESC-Megacity selbstverständlich über einen internationalen Flughafen, ein kunterbuntes soziales Leben wie z.B. Hipsterbars, Sterne-Restaurants, Upper-Class-Hotels und quirligen kulturellen Zentren, die gerne auch ein wenig landestypische Merkmale besitzen dürfen (aber nicht zu viele und bitte westeuropäischen Standards entsprechend).

„Nichts leichter als das!“ dachten sich neben den routinierten Hauptstädtern in Kiew einige nach ein wenig Publicity strebende Lokalpolitiker in Dnipro, Charkiw, Cherson, Lwiw und Odessa – sie alle wetteifern nun um eurovisionäre Ehren.

Dass bereits die Definition „internationaler Flughafen“ sehr dehnbar sein kann, dass die eigene Bevölkerung dem absehbar verschwenderischen Treiben eher skeptisch gegenüber steht, und dass der ukrainische Kulturminister noch im Juni höchstpersönlich zu Protokoll gab, die Regierung des maroden Landes wolle auf gar keinen Fall Staatsgelder für das Spektakel bereitstellen und biete abgesehen davon sowieso keinen geeigneten Standort, um den Eurovision Song Contest auszutragen – Schwamm drüber, hat keiner gehört.

Auch dass keine der Arenen – bis auf den Kiew Sportpalast, der jedoch zur fraglichen Zeit unseligerweise für ein Eishockeyturnier geblockt ist – über ein Dach verfügt, scheinen die Verantwortlichen geflissentlich übersehen zu haben (obschon sich der Widerwillen der EBU-Gewaltigen gegen Open-Air-Veranstaltungen hätte herumgesprochen haben müssen), tut es doch dem munteren Städteduell, das am 01. August in eine finale Entscheidung münden soll, keinen Abbruch.

Die Schlitzohren der EBU jedenfalls haben sich – wie aus gut informierter Quelle berichtet wird – währenddessen vom ukrainischen TV-Sender NTU schon einmal eine von der Regierung in Kiew gedeckelte Finanzgarantie in Höhe von 15 Millionen Euro zusichern lassen. Sie soll auf den Schweizer Bankkonten der Europäischen Rundfunkunion bis zum Abspann der Fernsehübertragung am 13. Mai 2017 eingefroren und nur dann verwendet werden, falls der Song Contest doch noch kurzfristig in ein anderes Land verlegt werden müsste.

Bis es soweit ist, feiert sich die Ukraine als popkultureller Nabel Europas. Willkommen in Wolkenkuckucksheim!

Foto: NTU

Vollkommen verbockt: Stockholm 2016

Nach drei Wochen des selbst-auferlegten Song-Contest-Schweigens ist der eurovisionaer in seine ESC-Blase zurückgekehrt, um sogleich mit Entsetzen festzustellen, dass er so einiges aufzuarbeiten hat.

Das Stockholmer Wettsingen ist längst entschieden, die 61. Runde des europäischen TV-Events wird als eine der politischsten in die Festivalgeschichte eingehen. Dabei hatten sich die schwedischen Veranstalter so viel Mühe gegeben, den Glamourfaktor des ehemaligen Kuschel-Grand-Prix in ungeahnte Höhen zu treiben und tonnenweise Glitter über den Globen ausgeschüttet. Es half alles nichts.

Ausgerechnet die Ukraine schnappte den Favoriten aus Russland und Australien den Sieg vor der Nase weg. Sängerin Jamala jammerte sich durch drei Minuten biografischen Liedguts, das von der Vertreibung ihrer Großeltern von der Krim Anno 1944 erzählte und für den lauschigen ESC-Fan mit dezenten Trip-Hop-Beats garniert wurde. Dagegen schmierten die mördergut gesungene Allerweltsballade aus Sydney, aber auch der spektakulär in Szene gesetzte, ansonsten aber harmlose Discofox aus Moskau gewaltig ab. Die Erfolgsformeln der Vorjahre, die große Conchita-Geste oder der stramme Mans-Tanz, waren mit einem Mal hinfällig. Der unbedarfte Fernsehzuschauer wähnte sich eher beim Festival des politischen Liedes, denn bei seinem Lieblingsschlagerwettbewerb. Der ESC 2016 ist im Hier und Jetzt angekommen, wo kriegerische Auseinandersetzungen zweier Teilnehmerländer in verklausulierter Lyrik den angeblichen Nerv der Zeit treffen.

Nichts davon ist wahr. Denn den schon jetzt kommerziell erfolglosesten ESC-Sieger der letzten 15 Jahre hat die veranstaltende EBU selbst verbockt. Die grundsätzlich sympathische, nun aber von der ukrainischen Kriegsgöttin Ruslana herself in den politischen Rachefeldzug entsendete Jamala gewann nämlich weder das Jury- noch das Televoting. Dennoch hievte sie zum Abschluss der paneuropäischen Übertragung den Siegespokal in die Höhe. Schuld ist das neue Wertungsverfahren (Experten- und Zuschauervoten werden nicht mehr gemittelt, sondern fließen gleichberechtigt in das Endergebnis ein). Bereits im ersten Durchlauf entpuppte es sich als Betriebsunfall, der jedoch von den Organisatoren ignoriert und seitdem lieber schön geredet wird, da sich doch dessen Änderungen grundsätzlich bewährt und Spannung bis zum Schluß garantiert hätten. Ein Großteil der folgsamen Fanschar stimmt zu.

Der in die Jahre gekommene ESC-Anhänger – Neuerungen gegenüber durchaus aufgeschlossen – kann sich nur wundern. Das Voting, seit Jahrzehnten gleichermaßen Kult wegen einer sich aufbauenden Spannung, die lieb gewonnenen ewig gleichen Dankesfloskeln der Jurysprecher sowie vorhersehbare Nachbarschaftswertungen – reduziert auf eine kurze Ansage der fabulösen Douze Points. Immerhin. Parallel werden Ergebnisse eingeblendet, denen kaum jemand folgen kann. Dann ein Break, weitere schwedische Pausenfüller, schließlich die Vermeldung der Zuschauerergebnisse. Gewann die unvergessliche Celine 1988 noch mit mageren 137 Punkten, wird nunmehr mit Finalergebnissen nur so um sich geschmissen. Warum die Ukraine urplötzlich 534 Stimmen bekommt – egal, Hauptsache sie gewinnt. Vergessen ist das Mitfiebern mit der bärtigen Conchita, heutzutage wird geklotzt, nicht gekleckert.

Womit wir beim deutschen Beitrag angekommen wären. Unser Lied schaffte es zum zweiten Mal in Folge, zum langweiligsten Song des Abends gekürt zu werden. Bravo! Und daran wird sich auch nichts ändern, solange eierschaukelnde Bosse irgendwelcher Major-Plattenfirmen darüber entscheiden, welches verheizbare Talent sich als nächstes auf europäischer Bühne bis auf die Knochen blamieren darf. Dem NDR sei Dank.

Was also hat dem ewig gnatzenden eurovisionaer überhaupt gefallen?

Zum Beispiel der knackig freshe Justin Timberlake (zum Zweck der konsequenten Weiterentwicklung des Events zum kommerziellen Worldvision-Contest von seinen Majors auf Promotour in die alte Welt geschickt), lieferte er doch den catchiesten (wenngleich von Schweden fabrizierten) Song des Abends. Oder auch die fantasmorganische Barei aus Spanien, die zwar im Zuge des in diesem Jahr über die Maße Diasporafreundlichen Votings komplett nach hinten über fiel, sich aber dennoch zum Liebling der eurovisionaeren Party mauserte. Oder auch der fesche Mans, der seine internationale Moderationsbewährungsprobe bravourös meisterte und das zusehends alternde, ähnliche wie der deutsche Kommentator an seinen Textkarten klebende Urgestein Petra Mede blass werden ließ.

Es ist vorbei. Schade. Der kommende Wettbewerb 2017, der aller Voraussicht nach im auch dann noch kriegerischen Kiew stattfinden wird, lässt bislang keine wirkliche Vorfreude zu. Stockholm hat es ganz einfach vergeigt.

Foto: EBU / Thomas Hanses

Politisch korrekte Ukrainer

Jamala | 1944

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Vorsicht, es folgt ein Politikum! Um seinen diesjährigen Song-Contest-Vertreter zu bestimmen, hatte das ukrainische Fernsehen eine Art öffentlichen Schauprozess organisiert, als dessen oberste Richterin die unbarmherzige Ruslana verpflichtet, und das Spektakel unter dem Decknamen “ESC-Vorentscheidung” viereinhalb Stunden lang per Youtube-Stream live in alle Welt übertragen.

Dem dreiminütigen Vortrag der Einreichungen nämlich schloss sich jeweils ein durchschnittlich halbstündiges Tribunal an, in dessen Verlauf wahlweise Kleiderfragen, nationale Symbole oder die politische Einstellung der Kandidaten ausgiebig hinterfragt bzw. ausdiskutiert wurden, während die betroffenen Künstler den Redefluss der Juroren möglichst demütig über sich ergehen lassen mussten.

Es gewann schließlich der Beitrag “1944“, in dem dessen Autorin und Sängerin Jamala ihren Schmerz um die Vertreibung ihrer tartarischen Großeltern von den Krim in eben besagtem Jahr durch Stalinrussland zum Ausdruck bringt. Das Perfide daran: Der damals und auch heute verhasste Aggressor wird in dem Liedtext nicht explizit erwähnt, lediglich die Jahreszahl stellt Kontext und Aktualitätsbezug her. Und über den wird – so viel ist schon jetzt sicher – beim Festival des politischen Liedes im Mai in Stockholm ausreichend geredet werden. Ukrainisches Kalkül Anno 2016.

Fest steht – Parolen wie das billig-banale “Tick-Tock” waren gestern. Nach einjähriger Abstinenz möchte die Ukraine nunmehr den paneuropäischen Contest weniger als völkerverbindendes Event, denn als Bühne für den unbändigen Zorn auf den verhassten Nachbarn mißbrauchen nutzen. Da wäre das “Love Manifest” des Sängers SunSay von der Message her versöhnlicher gewesen. Doch dessen Wahl verbot sich leider von selbst, wie Inquisitorin Ruslana durch beharrliches Nachfragen herausfand: Er gab vor laufenden Kameras zu, Freunde in Russland zu haben. Und die vom eurovisionaer 2011 noch so heiß geliebte Jamala muss es nun ausbaden. Na, bravo!

Bestes Mal: Ruslana | Wild Dances

Letztes Mal: Mariya Yaremchuk | Tick Tock


Noch nicht in diesem Jahrhundert angekommen

Um seinen diesjährigen Song-Contest-Vertreter zu bestimmen, hatte das ukrainische Fernsehen für den 21.02. eine Art öffentlichen Schauprozess organisiert, als dessen oberste Richterin die unbarmherzige Ruslana verpflichtet, und das Spektakel unter dem Decknamen „ESC-Vorentscheidung“ viereinhalb Stunden lang per Youtube-Stream live in alle Welt übertragen.

Dem dreiminütigen Vortrag der Einreichungen nämlich schloss sich jeweils ein durchschnittlich halbstündiges Tribunal an, in dessen Verlauf wahlweise Kleiderfragen, nationale Symbole oder die politische Einstellung der Kandidaten ausgiebig hinterfragt bzw. ausdiskutiert wurden, während die betroffenen Künstler den Redefluss der Juroren möglichst demütig über sich ergehen lassen mussten.

Es gewann schließlich der Beitrag „1944„, in dem dessen Autorin und Sängerin Jamala ihren Schmerz um die Vertreibung ihrer tartarischen Großeltern von den Krim in eben besagtem Jahr durch Stalinrussland zum Ausdruck bringt. Das Perfide daran: Der damals und auch heute verhasste Aggressor wird in dem Liedtext nicht explizit erwähnt, lediglich die Jahreszahl stellt Kontext und Aktualitätsbezug her. Und über den wird – so viel ist schon jetzt sicher – beim Festival des politischen Liedes im Mai in Stockholm ausreichend geredet werden. Ukrainisches Kalkül Anno 2016.

Fest steht – Parolen wie das billig-banale „Tick-Tock“ waren gestern. Nach einjähriger Abstinenz möchte die Ukraine nunmehr den paneuropäischen Contest weniger als völkerverbindendes Event, denn als Bühne für den unbändigen Zorn auf den verhassten Nachbarn mißbrauchen nutzen. Da wäre das „Love Manifest“ des Sängers SunSay von der Message her versöhnlicher gewesen. Doch dessen Wahl verbot sich leider von selbst, wie Inquisitorin Ruslana durch beharrliches Nachfragen herausfand: Er gab vor laufenden Kameras zu, Freunde in Russland zu haben.

Foto: Jamalamusic.com

2014 in Europa

Es gibt sie. Die böse, reale Welt außerhalb der heilen Eurovisionshemisphäre. Zum Beispiel in Odessa. Dort stürmte Sonntagabend ein mit Knüppeln bewaffneter Mob ein Konzert der Popdiva Ani Lorak. Die Sängerin erlangte durch ihre Teilnahme am Eurovision Song Contest 2008, wo sie den zweiten Platz mit „Shady Lady“ belegte, größere Bekanntheit in Europa und gilt in der Ukraine als eine der populärsten Künstlerinnen des Landes. Seitdem sie jedoch im Mai dieses Jahres zwei Musikpreise in Moskau entgegen genommen hatte, werfen ihr nationale Kräfte „unpatriotisches“ Verhalten vor.

Den Auftritt im Nachtclub „Ibiza“ nahmen nun 200 Randalierer – Faschisten des „Rechten Sektors“ sowie Anhänger der nationalistischen „Swoboda“-Partei – zum Anlass ihres gewaltsamen Protests. Die Nationalhymne singend und lauthals Parolen skandierend gelang es ihnen, den Lorak-Auftritt zu stören, bis schließlich mehrere Hundertschaften Polizisten eintrafen und die aufgebrachte Menge daran hinderten, den Klub anzuzünden. Trotz des Zwischenfalls wurde die Veranstaltung danach fortgesetzt.

Als Kommentar zu den Auseinandersetzungen gab das ukrainische Innenministerium derweil bekannt, in den kommenden Tagen eine schwarze Liste mit 500 (russischen) Künstlern veröffentlichen zu wollen, die künftig ein Auftrittsverbot in dem Bürgerkriegsland erhalten werden. Frau Lorak soll angeblich nicht dazu gehören.