Jamie-Lee. Da weiß man, was man hat

Jamie-Lee. Da weiß man, was man hat

Der deutsche Televoter hält nicht viel von Experimenten und wählt gerne das, was er schon kennt. Mit ihrem Voice-of-Germany-Gewinnersong „Ghost“ gewinnt Jamie-Lee auch die nationale Vorentscheidung 2016 und wird sich nun in Stockholm alle Mühe geben, mehr als null Punkte für ihr Heimatland einzufahren. Das Ziel erscheint – nicht nur vor dem Hintergrund der kürzlich bekannt gewordenen Regeländerungen der EBU – realistisch.

Foto: EBU / Stijn Smulders

Unser Lied für Stockholm – Die Ergebnisse

Superfinale

  1. 44,48% Jamie-Lee Kriewitz – Ghost
  2. 33,94% Alex Diehl – Nur ein Lied
  3. 21,58% Avantasia – Mystery Of A Blood Red Rose

Vorrunde

  1. 28,78% Jamie-Lee Kriewitz – Ghost
  2. 16,19% Avantasia – Mystery Of A Blood Red Rose
  3. 16,12% Alex Diehl – Nur ein Lied
  4. 11,11% Laura Pinski – Under The Sun We Are One
  5. 09,06% Gregorian – Masters Of Chant
  6. 05,52% Luxuslärm – Solange Liebe in mir wohnt
  7. 05,34% Ella Endlich – Adrenalin
  8. 03,32% Keøma – Protected
  9. 02,93% Joco – Full Moon
  10. 01,63% Woods of Birnam – Lift Me Up (From The Underground)

Wer wird ULFS?

Es ist soweit. Heute Abend will der NDR das unsägliche Naidoogate vergessen lassen und schickt daher zehn mehr oder weniger etablierte Künstler in das Rennen um das deutsche Ticket für den Eurovision Song Contest 2016.

Aus Erfahrung klug geworden, verzichten die Organisatoren gänzlich auf irgendeine Jury (über die im Anschluss garantiert eine wild gewordene Horde von Social-Media-Usern hergefallen wäre) und legen das Schicksal der Veranstaltung einzig in die Hände der Zuschauer. Diese dürfen per Telefon, SMS und erstmals auch per App für ihre Favoriten abstimmen. Und das gleich zweimal, denn die drei Erstplatzierten werden erneut in ein Superfinale geschickt, über das dann der endgültige Televotingsieger bestimmt wird. Sollte ausnahmsweise alles glatt gehen (jeder Künstler musste eine Erklärung unterschreiben, bloß keinen Kümmert zu machen) ist der Zauber, durch den die unverwüstliche Barbara Schöneberger geleitet, um 22.15 Uhr vorbei.

Und ob dann tatsächlich das Manga-Sternchen Jamie-Lee als glückliche Gewinnerin fest stehen sollte, wie es ihre aufgeregten Fanboys seit Monaten in die Welt krähen, oder doch die Meat-Loaf-Gedächtnis-Bombastnummer – wir werden am Ende dieser beispiellos peinlichen deutschen Vorentscheidungssaison endlich Gewissheit haben und einen Deckel auf das Drama der vergangenen Monate machen dürfen.

Alex Diehl – Nur ein Lied
… beweist, wie schnell man in den erlauchten Kreis deutscher Vorentscheidungsteilnehmer aufgenommen werden kann. Als spontane Reaktion auf die Terroranschläge in Paris hatte der bayerische Singer-/Songwriter im November letzten Jahres sein Nicole-Gedächtnis-Rührstück „Nur ein Lied“ geschrieben, flugs mit der Handykamera aufgenommen und auf Facebook hochgeladen.

Avantasia – Mystery of a blood red rose
… reklamieren handgemachte Rockmusik für sich, versteigern sich dann aber eher in Bombastklänge, an denen der selige Jim Steinman seine helle Freude hätte. Sänger Tobias Sammet ist der Kopf der erfahrenen Band, die bereits internationale Charterfolge aufweisen kann. Ob das Experiment gelingt, die Rockfraktion mit dem ESC zu versöhnen, wird sich zeigen. Möglicherweise erleben wir lediglich eine moderne Variante von Dschingis Khan.

Ella Endlich – Adrenalin
… war eingefleischten Schlagerfans bislang als studierte Musicalkünstlerin und Interpretin der Titelmelodie des Films „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ bekannt. Nun aber hat sie offensichtlich nachsitzen und pausenlos Helene-Fischer-Hits anhören müssen, denn ihren Beitrag „Adrenalin“ kann sie seitdem nicht mehr von „Atemlos“ unterscheiden. Dem Publikum heute Abend wird es wahrscheinlich ähnlich gehen.

Gregorian – Masters of chant
… wurde aus der NDR-Schublade „Irgendwas mit Verkleidung“ gezogen. Nach den Priestern, Seeleuten, Mittelaltergaucklern und Mongolen werden nun halt Mönche auf die Bühne geschoben. Dem eurovisionaer unbegreiflich, können sie mit diversen Gold- und Platinauszeichnungen gar auf stattliche Erfolge als Coverband bekannter Hits verweisen. Dem Himmel sei dank, dass sie für die heutige Entscheidung keinen weiteren Chartbuster verwursten dürfen, sondern – den ESC-Regeln entsprechend – ein eigenes Chorwerk an den Start bringen müssen.

Jamie-Lee Kriewitz – Ghost
… ward hochgelobt und gewann im Dezember den Wettbewerb „The Voice Of Germany“. Überraschenderweise schaffte sie im Anschluss mit ihrem Siegertitel „Ghost“ nur Platz 11 der heimischen Verkaufscharts und tourt seitdem mit der Voice-Clique durch Deutschland. Das erklärt vielleicht, warum sie für den ESC keinen neuen Song eingereicht hat. Oder fehlt der 17-jährigen Künstlerin vielleicht doch ein längerer Atem?

Joco – Full moon
… sind zwei studierte Schwestern, die vorgeben, Indie-Pop zu machen und gleichsam damit angeben, ihr im vergangenen Jahr erschienenes Debut-Album „Horizon“ in den Abbey Road Studios London aufgenommen zu haben. Das dürfte in der ESC-Welt allerdings nur lahmes Schulterzucken hervorrufen, folglich gilt ihr Titel „Full Moon“ schon im Vorfeld als Aspirant auf den letzten Platz.

Keøma – Protected
… ist ein deutsch-australisches Duo, dessen Debüt-Album ebenfalls soeben erschienen ist. Gitarre, Bass, Synthies und Gesang sind die Grundzutaten ihrer Musik, mit der sie ein weltoffenes und modernes Deutschland repräsentieren wollen. „Protected“ ist wunderschön chillig und folglich für nächtliche Autofahrten hervorragend geeignet, es dürfte jedoch leider im bunten ESC-Angebot hoffnungslos untergehen. Oder?

Laura Pinski – Under the sun we are one
… ist das neue Mäuschen von Ralph Siegel, der erstmals seit 2005 wieder zu einer deutschen Vorentscheidung eingeladen wurde. Das findet der eurovisionaer ganz lieb vom NDR, auch wenn das musikalische Schaffen des Grand-Prix-Urgesteins mittlerweile niemanden mehr vom Hocker haut. So auch das gewohnt hymnisch-sülzige Tralala „Under the sun we are one“, das die Düsseldorferin, die – man glaubt es kaum – angeblich gar schon einmal im Supertalent-Finale stand, heute zum besten geben will.

Luxuslärm – Solange Liebe in mir wohnt
… kommen aus Iserlohn, was die Band, die sich gerne wie Silbermond anhören möchte, verdächtig unhip erscheinen lässt. Doch immerhin haben die Musiker um Sängerin Jini Meyer bereits eine ECHO-Nominierung, die „1LIVE Krone“ sowie den vierten Platz beim Bundesvision Song Contest im Gepäck, da müssen sie sich wohl auch nicht mehr vor dem ESC fürchten. Und selbst wenn es in der Vorentscheidung schief gehen sollte, so wird der exponierte Fernsehauftritt für gehörige Promotion des gerade veröffentlichten neuen Albums sorgen. Danke Universal für so viel Uneigennützigkeit!

Woods of Birnam – Lift me up (from the Underground)
…ist ein Projekt des Schauspielers Christian Friedel (u. a. „Das weiße Band“) und Musikern der Gruppe Polarkreis 18, dem One-Hit-Wonder aus dem Jahr 2008. Ausgerechnet Til Schweiger haben sie ein wenig Bekanntheit zu verdanken, gehörten sie doch zum Soundtrack seines Films „Honig im Kopf“. Auf ewig lässt sich davon aber wohl auch nicht leben und so wagen sich die intellektuellen Softrocker zum deutschen Song Contest. Allerdings – eine Direktnominierung wäre in diesem Fall wohl sinnvoller gewesen, denn für den internationalen ESC durchaus kompatibel, dürften sie entsprechend der Televoting-Gewohnheiten der bundesdeutschen Fernsehzuschauer die erste ULFS-Runde nicht überstehen.

Grafik: eurovisionaer

Alles ist gut

Die liebe Seele hat Ruh! Was nach dem Naidoo-Disaster kaum einer für möglich gehalten hätte, ist wahr geworden: der NDR und die deutsche ESC-Anhängerschaft sind auf alle Ewigkeit für’s Erste ausgesöhnt!

Zuerst wurde geshitstormt was das Zeug hielt, Song-Contest-Teilnahme und Verschwörungstheorien eines Mannheimer Sängers gingen so rein gar nicht zusammen (fand auch der eurovisionaer). Dann wurde gemeckert, dass der NDR das nach nur zwei Tagen ebenfalls so sah. Anschließend wurde gequengelt, dass Alternativkonzepte für eine 2016-er Vorentscheidung so lange auf sich warten ließen. Und zwischendurch die Schose mit der gefakten Liste (für die der NDR aber nix konnte…). Doch nun ist alles gut.

Eben jener NDR, der noch im November zum Gespött der Nation geworden war, legte gestern ein Teilnehmerverzeichnis auf den Tisch, mit dem er nahezu alle Wünsche der Fans auf einmal erfüllte. Das süße Manga-Girlie Jamie-Lee wollt Ihr? Sollt ihr kriegen! Ordentliche Sendezeit? Erledigt: zwei Stunden! Die Barbara soll’s wieder richten? Gebongt! Schlager? Gerne! Ralph Siegel aus’m Exil holen? Na gut! Einzig die von einigen Hardcore-Nervensägen als Göttin angebetete Helene fehlt. Entschuldigt, denn das wäre wohl zu viel des Guten gewesen.

Nun reicht das musikalische Spektrum vom Bombastrock über Indiesounds bis hin zum lang verschmähten Tralala. Fragt sich nur, warum der NDR früher für eine weniger abwechslungsreiche Ausbeute nahezu sechs Monate Vorbereitungszeit einkalkulierte. Schwamm drüber.

Denn der Rest ist wie immer: Mit der Meldung der hoffnungsvollen Kandidaten werden mal wieder nur vier der insgesamt zehn Beiträge veröffentlicht. Die anderen Songs, äh… Lieder, sollen der Öffentlichkeit kleckerweise präsentiert werden. Und: Erneut ist die Redaktion vom Wohlwollen der Plattenfirmen, deren Promotionterminen und Single- oder LP-Veröffentlichungen abhängig. Doch was soll man anderes erwarten, wenn Brainpool-Hipster gemeinsam mit den Label-Managern abhängen? Eine ohrenschmalzerweichende musikalische Granate, die in irgendeiner Schublade nur darauf gewartet hat, endlich zum trendigen ESC entsandt zu werden?

Einzig das vorsichtig als innovativ zu betitelnde Konzept, Ideen zur Inszenierung der Künstlerauftritte von Studenten der deutschen Film- und Kunsthochschulen einfließen zu lassen, verdient Beachtung. Denn augenscheinlich hat es sich mittlerweile selbst bis Hamburg herumgesprochen, dass der im vergangenen Jahr siegreiche Måns Zelmerlöw ohne seine Comic-ClipArt-Installation zwar mehrere Blumentöpfe, nicht aber unbedingt den ESC gewonnen hätte.

Doch bei so viel Glückseligkeit allerorten will auch der eurovisionaer keine miese Stimmung verbreiten. Er stellt heute um 19.12 Uhr lediglich fest, dass er den Hype um eine kleine TVOG-Gewinnerin nicht nachvollziehen und die Ergriffenheit für einen kalkulierten Pseudo-Polit-Protest-Song nicht teilen mag. Bleibt ihm (vorerst) nur die pompöse Meat-Loaf-Gedächtnis-Nummer, die leider satte 35 Jahre zu spät kommt. Sei’s drum.

Foto: Pixabay

NDR lässt die Katze aus dem Sack: zehn Kandidaten für Stockholm

Wie bereits vermeldet, geht die deutsche Vorentscheidung „Unser Lied für Stockholm“ am Donnerstag, 25. Februar, um 20.15 über die Bühne. Und wie schon in den Vorjahren wählen die Zuschauer in zwei Durchgängen per Telefon, SMS und erstmals via offizieller ESC-App ihren Favoriten. Wen? Das verriet der NDR heute nun endlich, nachdem er sich erst im November kurz nach Bekanntgabe von seinem Wunschkandidaten Xavier Naidoo wieder verabschieden musste. Durch die zweistündige ULF-Show führt – ebenfalls wie immer – die unerschrockene Barbara Schöneberger. Die größte Überraschung in diesem Tal der Unaufgeregtheiten: Auch Ralph Siegel darf wieder mitmachen – er verantwortet den Beitrag der bislang unbekannten Laura Pinski.

  • Alex Diehl – Nur ein Lied
  • Avantasia – Mystery Of A Blood Red Rose
  • Ella Endlich – Adrenalin
  • Gregorian – Masters Of Chant
  • Jamie-Lee Kriewitz – Ghost
  • Joco – Full Moon
  • Keøma – Protected
  • Laura Pinski – Under The Sun We Are One
  • Luxuslärm – Solange Liebe in mir wohnt
  • Woods of Birnam – Lift Me Up (From The Underground)

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von „Eurovision Song Contest 2016 – Unser Lied für Stockholm“ wurden von Vertretern der jungen ARD-Radios (Aditya Sharma/Fritz, Andreas Zagelow/Sputnik), des NDR (Carola Conze/Thomas Schreiber), der Musiklabels (Tom Bohne/Universal Music, Nico Gössel-Hain/Sony Music, Steffen Müller/Warner Music) und Independents (Konrad von Löhneysen/Embassy of Music) sowie der Produktionsfirma Brainpool (Claudia Gliedt/Jörg Grabosch) ausgesucht. Kriterien waren vor allem das jeweilige Lied, dessen Erfolgschance in dem internationalen Wettbewerb und die Genrevielfalt. Zur Auswahl standen alle knapp 150 Vorschläge, die von ARD-Radios, Plattenlabels, Produzenten, Musikverlagen, Künstlermanagern sowie Künstlerinnen und Künstlern eingegangen waren. Für die Inszenierung der zehn ausgewählten Songs in der Show werden voraussichtlich Ideen aus verschiedenen Studiengängen an Film- und Kunsthochschulen aus Deutschland berücksichtigt, die derzeit noch an ihren Entwürfen arbeiten.

Quelle: NDR