Schwarz ist bunt genug
Category : Artikel 2018
Ecken und Kanten wurden uns versprochen, mehrfach war von einem radikalen Neuanfang die Rede. Was das Eine mit dem Anderen und zu guter Letzt mit der gestrigen Live-Sendung „Unser Lied für Lissabon“ zu tun hatte, erschließt sich selbst nicht auf den vierten Blick. Denn die war einfach nur grottenschlecht.
Deren Sieger – ein guter Repräsentant für alles Konformistische der Branche, angefangen bei seinem Namen: Er, Michael Schulte aus Buxtehude, schwimmt aalglatt und radiotauglich, wenn auch abseits der großen Majorlabels, durch das Paralleluniversum der vorgeblich verkannten Youtube-Stars. Dort postet er rührselige Popliedchen, die millionenfach gelikt werden. Auch gestern Abend erreichte er seine Zuhörerschaft und versetzte sie in einen Zustand, den viele als emotional ergreifend beschreiben. Und das ist beim deutschen Vorentscheid die halbe Miete. Dass er während der Show selbst eher unbeteiligt wirkte, seinen Auftritt mit plakativen LED-Claims und stimmlichen Wacklern garnierte – kein Thema. Vorerst.
Denn der NDR liegt sich vor lauter Glückseligkeit erst einmal wieder selbst in den Armen. Und mit ihm die deutschen Fans. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Jeder weiß: Noch einen Rang am Ende der ESC-Tabelle dürfte die Nation wohl kaum verkraften. Also fühlt man sich ein wenig sheeranesk (funktioniert mit Blick auf die Charts todsicher) und in der Tradition des portugiesischen Vorjahressiegers stehend. Perfekt.
Fernsehtechnisch dagegen gar nicht perfekt war der Abend eine einzige Katastrophe. Angefangen bei einem lausigen Skript, das nicht nur mittels zwölfundachtzig Schnelldurchläufen wie Gummi in die Länge gezogen wurde. Auch die müden Einspieler, einfallslose Kameraarbeit, ein angestaubtes Bühnenbild, gähnend langweilige Lichteffekte, hin zu einer unterirdischen Moderationsleistung (die gar den eurovsionaer nötigte, sich die ins Exil verbannte Barbara Schöneberger zurückzuwünschen) – in toto schlicht unprofessionell.
Ähnlich wie die flapsigen, jedoch völlig überflüssigen Kommentare von Kult-Urban und Rate-Elton zu den Beitragen unserer europäischen Mitstreiter. Eine ganz schräge Nummer: Ausgerechnet die Deutschen, die notorischen Loser in der ESC-Gemeinde, legen eine dickdreiste Überheblichkeit an den Tag, die bei den NDR-Funktionären nicht erst seit gestern zu beobachten ist. Und womöglich auch ein Grund, warum heimische Einreichungen gerne mal mit Null Punkten abgestraft werden (was dann der besagte Kult-Peter gar nicht versteht).
Zurück zum gestrigen Abend, an dem es – regelmäßige Leser dieses Blogs werden sich jetzt irritiert die Augen reiben – auch sehr wohl Lichtblicke gab. Zu ihnen gehörten die europäische Jury und das bislang stets unerklärbare Eurovisionspanel (von dem wir seit gestern wissen, dass es nichts anderes als die per Demoskopie bestimmten, repräsentativen Zuschauer der Reiberschen Vorentscheide der Achtziger sind). Schließlich verhinderten sie die piefig-peinlichen Resultate der über die Jahre eingelullten deutschen Televoter, bei denen Ryk und Darcy allein natürlich kaum eine Chance gehabt hätten.
Übrigens. Einzig der Weltenbummler Xa4 (so nennen ihn pubertierende ESC-Maniacos gerne mal) zauberte ansatzweise den Meyer-Landrutschen Geist aus dem tristen Fernsehstudio vor die heimischen Bildschirme. Leider waren letztendlich dann aber doch die Haare wahlweise zu lang oder zu fettig, die Beine zu dünn oder das Liedgut zu kantig. Immerhin ein verdienter zweiter Platz.
… trotz eines lächerlichen Votingsystems á la NDR, aus dem alle Spannung nach ein paar Minuten entwichen war und die Grazien Natia und Ivy unfreiwilligerweise (?) als Verliererinnen vorführte, so dass Letztere wahrscheinlich mehr als einmal ihren vorschnellen Umzug von New York nach Berlin bitter bereute.
Machen wir also einen Strich unter die norddeutschen ESC-Bemühungen und ziehen ein Fazit.
Der eurovisionaer meint: Nun reicht es dann auch mit dem NDR! Unabhängig vom Abschneiden in Lissabon (was zum jetzigen Zeitpunkt gar niemand ernsthaft einordnen könnte), das nationale TV-Format und der überwiegende Teil der gestern vorgestellten Lieder waren handwerklich unter aller Kanone. Seit Jahren bekommen wir dieselben Versprechungen und später die gleiche Soße in Schattierungen von grau präsentiert, während sich irgendein schamloser Unterhaltungsredakteur dafür vor laufenden Fernsehkameras auch noch auf die matschige Schulter klopft.
Gebt den deutschen Vorentscheid einfach in die Hände von mutigen und kreativen Köpfen, denn diese gibt es definitiv auch unter öffentlich-rechtlichen Dächern. Macht nicht auf dicke Hose, sondern liefert – die deutschen Fans, von denen viele Euch seit Jahren trotz allem Unfug stets aufs Neue die Treue halten, haben es verdient.
PS: Alternativer Lösungsvorschlag – Portugal heischt in diesem Jahr um Aufmerksamkeit mit einem Lied ohne Titel. Wie wäre es, wenn Deutschland einfach mal auf das Lied verzichtet und drei Minuten Stille präsentiert? Nach den zuletzt gemachten Erfahrungen wäre Europa womöglich begeistert.