Eurovisionäre Nachhilfe: 06. April 1974

Eurovisionäre Nachhilfe: 06. April 1974

abba 1974 universal bubi heilemannFoto: Universal/BubiHeilemann

1974An diesem Tag – also heute vor vierzig Jahren – wurde ich eurovisionär! Das hört sich spektakulär an, war es anfänglich aber überhaupt nicht. Denn während ich im Vorfeld des Wettbewerbs die damals alljährlich in der Bravo erscheinende Grand-Prix-Übersicht studierte, sympathisierte ich bestenfalls mit den heimischen Vertretern Cindy & Bert, was ich aus heutiger Sicht mal als Jugendsünde entschuldigen möchte. Mouth & McNeal aus Holland könnten den Deutschen vielleicht gefährlich werden, mutmaßte ich, denn auch die kannte ich aus der ZDF-Hitparade. Olivia Newton-John fand ich dagegen schon immer doof.

swe74Dann der 06. April: ich durfte ausnahmsweise länger aufbleiben und tatsächlich meine erste Eurovision am Bildschirm verfolgen! Ein Abend voller Ooh-, Hui- und Aha-Erlebnisse: Nie zuvor hatte ich diese Fanfare gehört, die das Festival feierlich eröffnete, und einen Kommentator, der erklären musste, was die Ansagerin im Morgenrock erzählte. Europäische Länder kannte ich zwar aus dem Diercke-Schulatlas, dass diese jedoch um die Wette sangen, war mir bis zu dem Zeitpunkt noch nicht untergekommen. Ich war aufgeregt wie Bolle, doch die ersten Lieder – passend zum ehrwürdigen Dome-Theater, in dem sie vorgetragen wurden – waren allesamt recht brav und langweilig, einschließlich das der von mir verhassten Australierin, die für England startete, wo moderne Musik ja eigentlich herkam. Noch ahnte ich nicht, dass sich innerhalb einer knappen Stunde meine Vorstellung von Pop für immer verändern sollte. Werner Veigel sagte die Startnummer acht an, als Agnetha und Annafrid die Bühne erstürmten und die glitterige Deko wie für sie gemacht zu sein schien. „My my, at Waterloo Napoleon did surrender!“ Sofort war mir klar, dass das piefige deutsche Duo dagegen nur abstinken konnte und seine Mikros am besten schnell wieder eingepackt hätte. Okay, die Holländer waren ganz lustig, die Italienerin offensichtlich sehr traurig und die Israelis hatten rattenscharfe Pullunder an. Mein Favorit für diese seltsame Hitparade aber stand schnell und unerschütterlich fest – es waren die schwedischen Abbas (diese Pluralform wurde damals übrigens wirklich benutzt).

nl74Im familiären Umfeld dagegen kam „Waterloo“ gar nicht gut an, Hippies hatten schließlich beim Schlagerwettbewerb nichts zu suchen! Freundliche Fräuleins wie Severine, Dana und Vicky Leandros waren es, die das Spektakel die letzten Jahre über dominiert hatten. Gruppen waren demgegenüber erst seit zwei Jahren bei der Eurovision offiziell zugelassen und als Vertreter der so genannten Beatmusik im Grunde genommen (noch) vom Schlagermainstream verpönt. Heute weiß ich natürlich um die an jeder Ecke lauernde behäbige Spießigkeit der Siebziger, damals erahnte ich sie nur. Abba waren daher so was wie ein frischer Luftzug, der pfeilschnell durchs muffige Wohnzimmer zog. Knallbunte Lichter in meiner bis dato eher schwarz-weißen Welt!

Dann folgte die für heutige Verhältnisse recht flotte Wertungsprozedur unter Leitung von Katie Boyle (immer noch im puscheligen Morgenmantel): 24 Votes, trotz der Null-Punkte-Klatsche der angelsächsischen Juroren reichte das zum Sieg, der vielleicht am riesigen Brightoner Scoreboard nicht übermäßig eindrucksvoll daher kam, für die europäische Gesangsveranstaltung jedoch einen tiefen Einschnitt darstellte. Urplötzlich wurde der Grand Prix Eurovision zum Eurovision Song Contest (obschon die Briten diesen Namen bereits in den 60ern einführten, er sich aber lange Zeit gegen den französischen Terminus nicht durchsetzen konnte) und lieferte wahrhaftiges Hitmaterial. Und ich hatte ihn für mich entdeckt und wollte ihn nie mehr loslassen!

lx74Nur so am Rand bekam ich in den Wochen danach mit, dass der Kanzler umziehen musste und wegen Beckenbauer ein riesiger Fußball auf unsere Straße gemalt wurde. Abba dudelte ich während jenes Sommers (der nach Aussage des DWD angeblich zu kühl, in meiner Erinnerung jedoch sehr warm war) rauf und runter. Zwar hatten es selbst Frau Sheer und der dicke Holländer auf meine vom Radio aufgenommene himmelblaue Musikkassette geschafft, dennoch gierte ich pausenlos nach neuen Melodien der vier Schweden, die mich auf immer größeren Postern aus jeder Ecke meines Kinderzimmers anlächelten. Und auf meine damalige Lieblingshose, ein giftgrünes Polyesterding mit überdimensionalem Schlag, durfte ich unter Aufsicht meiner Oma das Kürzel ABBA aufbügeln. Vorsichtig, damit die Hose nicht in Flammen aufging. Auch als die Skandinavier – seltsamerweise – innerhalb weniger Monate bei meinen Klassenkameraden jäh uncool wurden, blieb ich ihnen treu und sparte mein Taschengeld weiterhin für stets neue Alben und Singles. Über acht Jahre – meine gesamte Teenagerzeit – ging das so, sie waren immer da und machten mich mit ihrer Musik glücklich. Dann kam nichts Neues mehr. Lange hatte ich gewartet, dass sie wie alle anderen irgendwann einfach wiederkommen. Sie taten es nicht. Mittlerweile denke ich mir, dass das ein Glück war. Denn möglicherweise nur deswegen bleiben sie selbst heute für den Eurovisionär so frisch und fabelhaft wie am 06. April 1974.  Coverfotos: EBU/ Polydor (2) / Decca

scoreboard 1974

Foto: EBU



Eurovisionäre Nachhilfe: 03. April 1976

19761976 war der Grand Prix Eurovision so populär wie nie zuvor – und niemals danach wieder. Grund hierfür war zuallererst der Überraschungssieg von Abba mit „Waterloo“ zwei Jahre zuvor und dessen musikalisch etwas dünnere Fortsetzung mit dem holländischen „Ding-A-Dong“ 1975. Innerhalb kürzester Zeit war der Song Contest vom Chanson- zum zeitgemäßen Popmusikwettbewerb mutiert, dessen Siegertitel nicht nur internationale Charterfolge wurden, sondern – das war neu – seinen Interpreten auch etwas ähnliches wie eine überschaubare Karriere mit Nachfolgehits bescherten.

d76Es schien daher ein glücklicher Zufall zu sein, dass sich in der bundesrepublikanischen Vorauswahl zwar zuerst der Barde Tony Marshall durchsetzen konnte, wegen dessen nationaler Disqualifikation aber letztlich die Anfang der Siebziger recht hippe Formation Les Humphries Singers nach Den Haag geschickt wurde. Nichts wollten die Deutschen mehr als europäische Anerkennung durch einen Sieg beim Song Contest, also vertraute man der zuletzt gültigen Erfolgsformel und schickte erstmals eine Band zum Schlagerwettbewerb. Es endete mal wieder in einem Fiasko. Der Beitrag „Sing Sang Song“ war noch einfacher gestrickt, als es der Titel schon vermuten ließ und rangierte am Ende des Abends auf Platz 15. Es war – wie selbst heute noch so oft – der vergebliche Versuch Ralph Siegels, so etwas wie aktuellen Pop zu komponieren. Doch die Jugend konnte er mit seinem umständlichen ESC-Konstrukt überhaupt nicht erreichen. Lediglich bis auf Rang 45 der Mediacontrol-Charts schaffte es der Siegelsche Singsang, und auch ich als treuer Single-Käufer und Eurovisionsfan verweigerte mich. Und die Jurys Europas eben auch.

uk76Statt dessen setzten sie – wie schon im Jahr zuvor – ausgerechnet den Song auf Platz eins, der auch als erster des gesamten Teilnehmerfeldes vorgetragen wurde. Brotherhood of Man, die mir als fleißiger Mal-Sandock-Hörer schon seit Monaten mit „Kiss me, kiss your Baby“ im Ohr waren, führten mit ihren aus heutiger Sicht affigen Tanzschrittchen zu „Save your Kisses for me“ erstmals das choreografische Element in den Wettbewerb ein. Am 03. April 1976 sorgte es maßgeblich dafür, dass die Juroren den britischen Auftritt nicht vergaßen und mit Höchstwertungen überschütteten. Natürlich funktionierte ebenso die bei den famosen Schweden abgekupferte Formel „zwei Jungs, zwei Mädchen“ und der Charterfolg in der Heimat, wo der Song schon vor dem Contest auf Platz eins der BBC-Top-40 kletterte. Dort reichte es gar für zwei weitere Top Hits 77 und 78, aber eigentlich blieb die Band immer ein peinlicher Abba-Klon. Doch während diese Mitte 1976 mit „Dancing Queen“ schon in einer anderen Liga spielten und nunmehr seit über dreißig Jahren ihr Renterdasein genießen, tingeln die Briten bis zum heutigen Tage durch die ESC-Shows Europas.

mc76Dennoch täuscht das scheinbar so eindeutige Votum des 76-er Wettbewerbs, der knallvoll mit guten, eingängigen Beiträgen war: Monaco versuchte sich erfolgreich an den damals allmählich populären Discosounds, Frankreich und Österreich hatten wirklich tolle Schlager am Start, Belgien eine wundervolle Ballade und Israel einen richtig guten Popsong. Viele schafften es während des heißen Sommers in die europäischen, aber auch bundesdeutschen Charts und sorgten für einen hohen kommerziellen Wert dieses – rückblickend betrachtet – außergewöhnlichen Jahrgangs.

sf76Und in einen mittelschweren Schreikrampf versetzt mich auch heute noch der legendäre finnische Beitrag „Pump Pump“ des gemütlichen Fredi. Zwei seiner „Friends“, die beiden Tänzerinnen, hatten kurz vor dem großen Auftritt wohl aus Langeweile Ecstasy-Bonbons gelutscht, die die beiden so in Fahrt brachten, dass der Sänger aus Suomi vermutlich noch Wochen danach blaue Flecken an der Hüfte hatte. Für solche Momente liebe ich die Eurovision!
Coverfotos: Decca, Pye Records, Polydor, Philipps

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Foto: EBU