Es begab sich zu jener eurovisionaeren Zeit…
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In unseren westeuropäischen Breiten hat man ab circa Anfang Dezember für drei bis vier Wochen grundsätzlich andere Sachen zu tun, als sich um den ESC zu kümmern. Zur angeblich schönsten Zeit des Jahres strömen wir in die noch heller als sonst erleuchteten Shoppingtempel, frieren uns bei süßer Glühweinplörre die Füße auf diversen Weihnachtsmärkten ab, überstehen genervt die alljährlichen Betriebs- und Abteilungsfeiern, auf denen das sonst brave Kollegium hackestramm „Last Christmas“ lallt, backen Kekse in Tausenderauflage, verpacken den ganzen Geschenkeplunder weltmeisterlich schmuck, hasten am 24.12. noch schnell in den selbstverständlich immer noch geöffneten Supermarkt, um anschließend eine unendliche Liste von wohl koordinierten Familienbesuchen abzuarbeiten. Am Ende sacken wir ermattet ins Fauteuil, entsorgen fein säuberlich getrennt den Berg Verpackungsmüll und sind froh, dass der ganze Zinnober vorüber ist.
Nicht so in Eurovisionia. Dort findet Weihnachten alljährlich im Mai statt. Es dauert ebenfalls nur drei Tage, doch der im ersten Abschnitt skizzierte (Vor-) Feiertagsstress ist ein müder Witz im Vergleich zu den monatelangen Vorkehrungen, die im Regenbogenland von Fairytale, Euphoria und Ding-A-Dong getroffen werden müssen.
In der Regel beginnen diese im Dezember, so auch in diesem Jahr, als der eurovisionaer, ein Wanderer zwischen beiden Welten, frühmorgens, vom Läuten des Weckers aufgescheucht, zum Laptop tapert. Innerhalb eines sehr eng eingegrenzten Zeitfensters gilt es für ihn, in virtuellen Warteräumen abzuhängen, um ein ganz besonderes Geschenk, Eintrittskarten zur Festmesse im Mai zu ergattern. Und wie in jedem Jahr wird diese Freude nur wenigen zuteil, wenngleich der norwegische ESC-Santa-Ola weitere Gelegenheiten verspricht. Der eurovisionaer jedenfalls gibt die Hoffnung so schnell nicht auf, bucht in gleichem Atemzug mal eben Übernachtungsmöglichkeiten und Transportmittel für die Pilgerfahrt im Mai und legt sich wieder aufs Ohr.
An anderer Ecke in Eurovisionia wird derweil Probe gesungen. Der Konsul des NDR hatte gerufen und lässt nunmehr in einem von niemandem mehr zu durchschauenden Selektierungsprozess fein säuberlich erwählte Entscheider vorsortieren, bewerten und voten. Schon singen und tanzen die willigen Barden und Maiden vor, doch einzig der bajuwarische Voxxclub, sechs stramme Burschen, die der eurovisionaer erst wenige Tage zuvor auf einem heimischen Weihnachtsmarkt gesehen hatte (so schließt sich der Kreis), sorgen für etwas wie Aufregung in der nationalen Anhängerschaft.
Wieder andere, wie der skandinavische ESC-Heilsbringer Christer, durchqueren dieser Tage unter größten körperlichen Anstrengungen nahezu den gesamten Kontinent. In seiner Gefolgschaft die Sternendeuter Edoardo und Nicola, gemeinsam gelten sie als die Heiligen Drei Könige der Eurovision. Sie erkennen sofort, welche Melodei oder Tanzfigur Erfolg verspricht und so kommt es, dass ihr Rat von nah und fern inständig erbeten wird.
Aber nicht alle eurovisionaere mögen auf fremde Ratschläge hören. Im fernen Tirana, wo traditionell der erste Abgeordnete für das europäische Wettsingen auserkoren wird, schert man sich wenig um die Meinung des mächtigen Mannes aus dem hohen Norden. Seit jeher wird hier ein drei Abende dauerndes, rauschendes Fest ausgerichtet, an dessen Ende ein in der Regel sperriges Opus der vom Wein ermüdeten Zuhörerschaft präsentiert wird. Wieder ernüchtert, verbringt man die nachfolgenden Monate damit, das Liedgut für die Ohren der europäischen Nachbarn etwas geschmeidiger zu zimmern.
Ähnlich eifrig geht es dieser Tage in fast jedem Land des alten Kontinents zu. Abordnungen für die heimischen Festivals Beo- und Montevizija, Eesti Laul, A Dal – und wie sie nicht alle heißen – werden unter Jubelgeschrei des Volkes benannt. Derweil hämmert der kommende (jedoch lange Jahre unbeachtete) Gastgeber, das portugiesische Lisboa, mit größtem Stolz eine anmutige Bühne zusammen und vergißt prompt die allseits geliebten Leuchtwände. Und inmitten dieses wieselflinken Durcheinanders erhält der siegreiche Barde des Vorjahres, San Salvador, um dessen Gesundheit ganz Eurovisionia gebangt hatte, in einer mehrstündigen Operation ganz heldenhaft ein neues Herz!
Da sage noch einer, unsere Weihnachtsrituale seien anstrengend!