Mailand oder Madrid? Hauptsache Italien!

Mailand oder Madrid? Hauptsache Italien!

Neulich schiebt der eurovisionaer den Silberling mit dem 1990er Jahrgang in den DVD-Player. Das ist so eine Art Methadonprogramm, welches sich während der nachrichtenarmen ESC-Vorsaison als recht probates Mittel erweist, die Symptome des harten Song-Contest-Entzugs ein wenig abzumildern.

Eingefleischte Fans wissen: Trotz ihres Alters erfüllt die Zagreber Ausgabe immer wieder ihre beruhigende Wirkung, bietet sie doch ein für damalige Verhältnisse relativ modernes musikalisches Spektrum. Vorausgesetzt, der Zuschauer skippt die besonders übel aufstoßenden zuckersüß-pathetischen Hymnen, die den Wettbewerb seinerzeit als Folge des wenige Monate zuvor Europa euphorisierenden Mauerfalls überschwemmt hatten. Ähnlich entzückt freut sich der Blogger 25 Jahre später auf der heimischen Couch über ein Wiedersehen mit seinen eurovisionaeren Lieblingen aus Frankreich, Israel und Spanien. Letztere haben schon allein wegen der leidigen Playbackpanne ewige Berühmtheit erlangt und sind bekanntermaßen aus kaum einen ESC-Rückblick mehr wegzudenken.

Der eigentliche Skandal des Song Contests 1990 jedoch wird in allen Retrospektiven brav unterm Deckel gehalten, was gerade heutzutage, wo eifrig über die Intransparenz der EBU gestritten wird, ein wenig nachdenklich stimmt.

Das Voting ist damals am 05. Mai in vollem Gange, als Italien als 19. Jury aufgefordert wird, seine Punkte zu vergeben. Und nach einer kurzen Pause meldet sich der ein wenig schwerfällig in den Redefluss kommende Sprecher der RAI-Jury mit den Worten „Voici les résultats du jury espagnol“.

Helga, unvergessene Gastgeberin des kroatischen Fernsehens, schaut sofort verschreckt zu ihrem Co-Moderator Olivar herüber, der aber überspielt den Lapsus nicht etwa nonchalant, sondern hakt recht ungeschickt nach: „Aber das ist doch die italienische Jury, oder?“ Das Reaktionsvermögen des offensichtlich alkoholisierten Jurysprechers scheint mittlerweile jedoch komplett außer Kraft gesetzt zu sein, er wertet munter weiter, bis schließlich Frank Naef, Offizieller der EBU, ihn auffordert, einfach von vorne zu beginnen. Das tut er prompt und entschuldigt sich lapidar mit einem „technischen Problem“. Was folgt ist eine eigentümliche Wertung, während der der spätere Sieger Italien für seine direkten Konkurrenten Frankreich und Irland keinen einzigen Punkt rausrückt.

Der Vorfall wird danach nie wieder thematisiert. Lediglich in einigen Fanforen (Link zwischenzeitlich entfernt) raufen sich seitdem eurovisionäre Verschörungstheoretiker zusammen, die behaupten, Italien habe für den Contest gar keine Jury abgestellt (was einen nicht sonderlich verwundert, denkt man wiederum an die Organisation des Folgewettbewerbs 1991 in Rom zurück). Infolgedessen habe die EBU gemeinsam mit dem verantwortlichen jugoslawischen Sender JRT mir nichts dir nichts beschlossen, eine Handvoll Zagreber Studenten in einem Nebenraum mit vornehmlich dalmatinischem Rotwein zu bewirten und einfach als italienische Jury auszugeben. Dass diese dann unter steigendem Pegel bald nicht mehr gewusst habe, ob sie nun aus Italien oder Spanien komme – kann passieren.

Eins ist klar: Von der sturen EBU werden wir wohl nie erfahren, was da genau gelaufen ist. Statt dessen können wir von Glück reden, dass der Wettbewerb 1990 nicht so ein enges Rennen war wie noch zwei Jahre zuvor in Dublin. Um allerdings den ESC-Rausch ohne Katerstimmung zu genießen, sollten wir uns besser nicht fragen, wie viele Schaltungen es damals noch in irgendwelche Hinterzimmer der Lisinski-Halle gab.


Eurovisionäre Nachhilfe: 05. Mai 1990

1990Der ESC-Jahrgang 1990, ein Klassiker! Selten zuvor gab es so viele Songs, die meine private Playliste anführten und auch ohne den Contest hätten bestehen können. Selbst heute, fast 25 Jahre später, weiß ich eigentlich gar nicht, wo ich mit meinen Lobeshymnen anfangen soll… Sicher bei Israel und seiner wundervollen Rita, die mich auf Jahre – was sag ich! – Jahrzehnte danach in schönen wie auch gleichermaßen traurigen Momenten begleitete. Die spanischen Azucar Moreno, denen zwar auf ewig diese dumme Playback-Panne anhängt, die aber auch einen Orkan Modernität in den ollen Wettbewerb gebracht hatten. Frankreich, das den Altmeister Gainsbourg ausgegraben und mit ihm ein erneutes Husarenstück abgeliefert hatte. Oder die Türkei, die erstmals in der ESC-Historie die eigene Melancholie erfolgreich in Noten umsetzen konnte. Die liebenswert stelzige Dänin, der traurige Belgier sowie die gastgebenden Jugos, die kurz vor Schluss noch einmal verrückte Sachen machen wollten. Anders als heute war da selten die Skip-Taste im Spiel, wenn ich der (damals noch nicht offiziellen) CD gelauscht habe und einen wahrhaftig eurovisionären Flash verspürte.

il90Der 05. Mai war heiß! Wie gewohnt hatte ich nachmittags Günter Krenzens Pop-Report verfolgt und die Songs des Abends studiert, während ich in besagtem Jahr erstmals so richtig auf ESC-Party machen wollte. Dementsprechend ewig lang war ich damit beschäftigt, möglichst viel Platz in dem winzigen Kühlschrank meiner 3-qm-Küche zu schaffen, um irgendwo Unmengen an Sektflaschen deponieren zu können. Damals war es in, bei Festivitäten dieses Zeugs zu trinken! Heutzutage käme das zwar niemandem mehr in den Sinn, dennoch erinnere ich nostalgische Bilder, frohgelaunt aus einer Art Getränkefeinkosthandel kistenweise angeblich hauseigenes Perlgesöff geschleppt zu haben. Dieses galt es also zu verstauen und zu kühlen, um es den Gästen bestmöglich temperiert anbieten zu können, das Warten auf die abendliche Bescherung nutzte ich folglich recht pragmatisch. Es war eine komische Zeit, Deutschland war den Winter zuvor in etwas wiedervereinigt worden, das ich nie kennengelernt hatte, und jetzt eben zu allem Überfluss noch heiß. Ein Sommer Anfang Mai halt.

e90Gegen 20 Uhr war es dann vollbracht, die Eurovisionsgirlande (prust!!!) hing und die Käse-Lauch-Suppe, die es damals auf jeder zweiten Feier gab, war gekocht. Doch zu einer Zeit, als Eurovisionsparties nahezu unbekannt waren, ließen sich Außenstehende noch beeindrucken und innerhalb einer halben Stunde waren alle vortrefflich angetrunken und in bester Stimmung. Mit dem cremigen Etwas auf dem Löffel verfolgten wir den Siegeszug der Italiener, die sehr hoffnungsfroh die nahende Einheit Europas besangen, was den damals noch ausschließlich wertenden Jurys wahrscheinlich runter gegangen war wie das sprichwörtliche Öl. Toto Cutugno hatte Jahre zuvor bereits in Mitteleuropa durch eine Single namens „L’Italiano“ auf sich aufmerksam gemacht (die schmetterte ich Mitte der Achtziger so manche Nacht mit meinem lieben Freund Herrn B), nun also gewann er den „Grand Prix“ und ein weiteres Jahr später gar sollte er den Song Contest moderieren, was aber besser ein böser Traum geblieben wäre und zu jenem Zeitpunkt – dem ESC-Gott sei Dank! – noch niemanden interessierte.

i90Vielmehr ging es, als das Gesinge gegen Mitternacht gelaufen war, darum, dass unser Partysieger die Gemeinde zumindest teilweise an seiner fetten 45 Deutschmark-Wettprämie (nur er hatte den Toto erahnt…) teilhaben ließ. Ob der vorherrschenden Hitze wurde er einstimmig beauftragt, Eiskrem zu besorgen, was sich in den Jahren danach – wie süß! – zu einem festen Ritual entwickeln sollte. Seine Pappenheimer kennend, kam er dann wenig später unter großem Hallo mit der einst trendigen Langnese-Kreation „Sekt-Cooler“ von der Tanke zurück und gab der Partymeute damit den noch fehlenden letzten, ultimativen Kick. Sternhagelvoll zog sich diese nämlich anschließend auf meinen Miniatur-Balkon zurück, demolierte meinen neuen, heißgeliebten Liegestuhl und ließ die Nacht zum Tag werden. Trotzdem müsste ich jetzt lügen, wenn ich behauptete, dass ich mich von diesem Treiben widerwillig entfernt hätte – kurzum: es war ein wunderbarer Abend!

Toto machte anschließend seinen verdienten Weg in die deutschen Charts, wo die heimischen Vertreter Kovac und Kempers mit ihrer Siegel-Hymne von Beginn an nichts zu suchen hatten. Und ich träumte den Rest des Jahres weiter von der israelischen Rita und so manchem, quatsch – einem speziellen! – Partygast (die Testosterone halt!). Diese Wunschvorstellungen jedoch sollten sich erst zwölf Monate später – rechtzeitig zur nächsten ESC-Sause – endgültig entladen. Aber das ist eine andere Geschichte…

scoreboard 1990

Foto Scoreboard & Logo: EBU