Wie so viele andere, krönt der eurovisionaer seine ESC-Leidenschaft u.a. mit dem Sammeln von mittlerweile nicht mehr zählbaren Audiotracks, die in einer irgendwie gearteten Verbindung zum Wettbewerb stehen. Einige unter ihnen markiert er als „withdrawn“, weil das Einsendeland doch noch bessere Melodien auftrieb, oder als „disqualified“, weil irgendein Regelverstoß dazu führte, dass die EBU den Beitrag nicht zum Finale zulassen wollte. Seit gestern gilt es, ein neues, zusätzliches Attribut zu finden.
Da nämlich entschied der Geheimdienst der Ukraine, Gastgeberland des Eurovision Song Contest 2017, die russische Kandidatin Julia Samoilova vom Wettbewerb auszuschließen. Sie war 2015 auf der damals von Russland annektierten Krim aufgetreten und zu diesem Zweck nicht über das ukrainische Festland eingereist. Gemäß der dortigen Gesetze ist das illegal und wird mit einem dreijährigen Einreiseverbot in die Ukraine geahndet.
Damit entscheidet erstmals in der Geschichte des ESC ein Gastgeberland darüber, ob bzw. welche Künstler am Wettbewerb teilnehmen dürfen. Die EBU verhält sich butterweich (wie schon in den vergangenen Monaten, als Kiew mit diversen organisatorischen Problemen zu kämpfen hatte), bedauert den Vorfall, verweist aber auf die Gesetzgebung in der Ukraine und katapultiert sich damit als Organisator und Schiedsrichter des Events in ein scheinheiliges Nirwana.
Hilflos bietet sie kurze Zeit später der russischen Sängerin an, per Moskauer Satellitschalte an der Sendung teilzunehmen, was Channel One Russia prompt mit Verweis auf die Wettbewerbsregularien ablehnt und auch die ukrainische Politik nicht zulassen möchte, da nach einem wiederum anderen nationalen Gesetz „unerwünschten Personen“ grundsätzlich die Teilnahme an TV-Sendungen verboten sei. In letzter Konsequenz hätte die Ukraine wohl den Samoilova-Auftritt nicht übertragen.
Die ESC-Fans bewaffnen sich derweil mit Popcorn und genießen von der heimischen Couch aus das politische Spektakel, das zunehmend der dürftigen Handlung einer Soap-Opera gleicht. Wenige haben den russischen Song in ihrer Bestenliste des Jahrgangs – so what? Andere vermuten eine von Anfang an durchsichtige Provokation Moskaus oder berufen sich ebenfalls auf die geltende ukrainische Gesetzgebung, die nun einmal eingehalten werden müsse.
Der eurovisionaer – Fan der ersten ESC-Pop-Stunde 1974 – stellt derweil kopfschüttelnd fest, zu was sein Lieblingsschlagerwettbewerb in den Händen zweier Kriegsparteien verkommen ist. Und Gründervater Marcel Bezençon dürfte sich zwischenzeitlich gar im Grabe umdrehen, glaubte er doch, dass ausgerechnet Musik die zerstrittenen Völker Europas nach dem Zweiten Weltkrieg vereinen könne, wenn diese in gegenseitigem Respekt und Anerkennung um den Grand Prix Eurovision wetteiferten.
Von diesem Ideal ist 2017 nichts mehr übrig. Schlimmer noch: es scheint auch niemanden zu stören. Lange nach der einst umjubelten Öffnung des eisernen Vorhangs fokussiert sich die Fanszene nunmehr auf Russland als ungeliebtes Adoptiv-Kind des ESC. Unvergessen die Buh-Orgie gegen die russische Teilnehmerin Polina Gagarina, die den Tränen nahe jede weitere 12-er-Wertung in der Stadthalle zu Wien fürchtete und ausgerechnet von Conchita Wurst getröstet werden musste. Grund: Die Fanschar mochte (was grundsätzlich nachvollziehbar ist) nicht im Folgejahr ins ehemalige Zarenreich reisen müssen, seitdem dort 2013 Anti-Schwulen-Gesetze verabschiedet wurden.
Wie der aktuelle Streit zeigt, haben auch heute noch viele Länder Osteuropas in Punkto Toleranz, Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz immensen Nachholbedarf. Nicht allein Russland und die Ukraine, auch Weißrussland, Azerbaidschan sowie weitere ehemalige Ostblockrepubliken können nicht das halten, was der fröhliche Sängerwettstreit als Demokratiemuster eigentlich verspricht.
Die ansonsten gerne unpolitischen ESC-Nerds wiederum tappen in eine Falle, wenn sie Landesgesetze, die vor vier Jahren in Russland noch wütend angemahnt wurden, heutzutage – nur weil sie aus der Ukraine kommen, aber gleichermaßen unsinnig sind – als gegeben akzeptieren. Denn es darf nicht Kiew überlassen bleiben, den Contest zu instrumentalisieren und darüber zu entscheiden, welche unliebsamen Teilnehmer mal eben von der Liste verbannt werden dürfen. Hierüber entschied bislang einzig die EBU.
Die wiederum macht eine mehr als unglückliche Figur und muss sich für die Eskalation der jüngsten Polit-Schmierenkomödie ganz dicke an die eigene Nase fassen. Öffnete sie doch erst im Vorjahr den Wettbewerb für politische Einflussnahme, weil sie den ukrainischen Beitrag „1944“ zuließ, der vordergründig die damalige Vertreibung der Krimtataren, zwischen den Zeilen aber ebenso die gegenwärtige russische Politik thematisierte. Das fällt ihr in der Causa Samoilova nun auf die Füsse, wenn sie einerseits den angeblich unpolitischen Charakter des Festivals hervorhebt, und sich gleichsam ukrainischen Entscheidern andient, ohne zu erkennen, welches strategische Spiel diese gerade spielen.
Seien wir ehrlich: Die Ukraine wollte 2017 von Beginn an keine Russen im ESC-Land haben. Das zuzugeben, wäre ob der EBU-Statuten unmöglich gewesen. Statt dessen reimt man sich nun irgendwelche Einreiseverbote zusammen. Den Genfer Funktionären sollte es allmählich dämmern, in welches Dilemma sie sich mit der Vergabe an Kiew begeben haben. Längst haben sie Pandoras Büchse geöffnet. Der einst friedliche Schlagerwettbewerb ist nicht mehr allein die Lachnummer des schlechten Geschmacks, die regelmäßig in irgendeinem hochnäsigen Feuilleton karikiert wird, sondern zum Austragungsort politischer Propaganda verkommen.
Wäre die EBU stark und über alle Zweifel erhaben, würde sie um ihre eigenen Prinzipien der Ukraine die Ausrichtung sofort entziehen, den Contest nach Schweden verlegen und die Russin auf die Bühne holen. Doch damit ist nicht zu rechnen – der Konjunktiv hat gewonnen.
Foto: coloneljohnbritt / Creative Commons CC BY-NC-SA 2.0