Donnerstag, 12. Mai 2011

Düsseldorf erleben: One to a hundred

Für ein weiteres Semifinalticket war ich zu geizig. Schließlich gibt es seit der WM 2006 allerortens Public-Viewing. Noch dazu muss man ja nicht an allen drei Tagen in der dunklen Halle sitzen, statt dessen kann man unter freiem Himmel mit einem Plastikbecher in der Hand das Wettsingen im Kreis seiner Liebsten geniessen. Düsseldorf wird das schon auf die Beine stellen!

Egal, was Düsseldorf im Mai 2011 alles auf die Beine gestellt hat – ein Public Viewing (der Semis) leider nicht. Glücklicherweise hatte ich dieses sich abzeichnende Missgeschick schon vor zwei Tagen mit Herrn V versucht zu recherchieren, allerdings waren sowohl das Touristenbüro als auch der Fandesk anfänglich überfragt. Vielmehr wollten uns jene Experten in die Düsseldorfer Randbezirke heraus drängen, als ich dann doch eine passende und zentrale Alternative klar machen konnte – den Knoten! Wirtin Isa hatte mir nämlich bereits am Dienstag voller Stolz berichtet, dass sie diese kommunale organisatorische Lücke mit Beamer und Großbildfernseher auf jeden Fall schließen werde. Kurzum habe ich ihr meine Teilnahme zugesagt. Doch der Reihe nach.

Mein erster Mitreisender ist heute Beyefendi G, der sich immer noch vom dienstäglichen Ausscheiden der Türkei erholen muss. Da er nun aber ein Ticket für das erstmals seit 17 Jahren ohne türkische Beteiligung stattfindende Finale besitzt, will er sich heute trotzdem ein wenig in Stimmung bringen, was mit dem S-Bahn-Zustieg von Frau P in M so gut wie garantiert ist. In Düsseldorf eingetroffen, stoßen alsbald Frau S und kurze Zeit später Miss S zu uns. Beide sind ja mittlerweile eurovisionserfahren im Gegensatz zu Frau V, die wir per Mobiltelefon ebenfalls zu einem vereinbarten Treffpunkt lotsen. Die plötzliche Eurovisionsbegeisterung von Frau V zu erklären ist gar nicht so einfach. Fangen wir mal bei der Home Edition an, bei der sie zwar wenig erfolgreich die Schweiz vertreten hatte, aber immerhin Herrn B kennen lernte, der ihr wiederum bei einem zufälligen Treffen Anfang dieser Woche von der wunderbaren israelischen Party vorschwärmte (jetzt erinnert sich der Leser auch wieder, wer eigentlich Herr B in diesem Wust von Protagonisten war, oder?). Dessen Äußerungen haben dann Frau V dermaßen angefixt, dass sie kurzum per Mail bei mir nachfragte, wann denn der nächste Trip gen Landeshauptstadt geplant sei und ob sie an diesem teilhaben dürfe. Nichts einfacher als das – und schon schlendern wir (mal wieder) durch die frühsommerliche Altstadt, um uns für den Abend zu stärken.

Dass klappt in einer italienischen Trattoria auch ganz ausgezeichnet – und während wir in den von Miss S angeschleppten Lufthansa-Baggies im Zuge allgemeiner Erheiterung aufblasbare Perücken und Mikrofone vorfinden und ausprobieren, habe ich in der Person eines kurzgewachsenenen italienischen Oberkellners einen neuen Fan, der mir fortan jedes Bier nur noch in scheinbar persönlichem Einvernehmen mit Blickkontakt serviert, was die Damen in unserer Runde meisterlich amüsiert, mich jedoch nicht weiter beeindruckt.

Schließlich gibt es an diesem Abend Wichtigeres, weshalb wir dann auch entschlossen aufbrechen und uns rechtzeitig Richtung Knoten bewegen. Dort angekommen, ereilt uns das Szenario von vor zwei Tagen; der Laden ist nahezu leer, wodurch wir immerhin die freie Platzwahl haben und den von Isa offensichtlich noch vor wenigen Minuten abgestaubten LCD-Fernseher in voller Pracht geniessen können. Während meine BegleiterInnen noch ein wenig mosern, dass dieser Laden bislang nicht der versprochene Hotspot sei, strömen dann doch weitere Besucher in den Knoten und wir erhalten unsere erste Runde. Unglückliche Zufälle (die Welt ist nicht nur klein, sondern winzig) tragen dazu bei, dass ich in den nachfolgenden Minuten den Inhalt der viel zu kleinen Altgläser schneller als die anderen konsumiere, doch dank des energischen Einschreitens von Frau P ist der Knoten innerhalb weniger Minuten dann wieder auf seine ursprüngliche Größe gewachsen, so dass wir uns aufs Halbfinalgucken, Fotoschießen und Biertrinken konzentrieren können.

Ich bin letztlich heilfroh, dass mein Favorit aus dem mir einst so nahen Bosnien-Herzegowina den Sprung ins Finale geschafft hat und uns ähnliche Schrecken wie am Dienstag erspart bleiben. Mit dem Ende der Halbfinal-Show in der unweit gelegenen Arena strömen schließlich auch immer mehr Besucher in die Altstadt. Ab halb zwölf füllt sich daher unsere liebgewonnene Lokalität ähnlich wie am vorvorherigen Abend und schnell sind wir von Gruppen junger Männer aus aller Herren Länder umgeben. Und während ich mit Mister J aus Southhampton plaudere, Frau V sich gar heftigst in den spanischen Hengst P verguckt und wundert, warum er ihre Blicke in keinster Weise erwidert, Frau und Miss S sich einer Gruppe junger Bajuwaren anvertrauen, widmet sich Frau P dem bundesweit bekannten Herrn Ü aus K, der zuvor wild gestikulierend ein Betroffenheitsgefühl in ihr ausgelöst hatte.

Als ich also immer wieder nach vollen Altgläsern greife, lerne ich außer dem sympathisch britischen Mister J auch zwei bosnische Gospoda aus BL (woher auch sonst? – schließlich ist heute offensichtlich mein persönlicher 21.12.2012) und letztlich den spanischen Hengst näher kennen, der sich gottseidank nur an meinen Unterarmen vergreift. Allerdings reicht das schon aus, um Frau V vollends zur Verzweiflung zu bringen. In den folgenden Stunden – Miss S hat zur Freude ihrer neuen Bewunderer längst ihren goldenen Pailettenhut aufgesetzt – genießen wir gemeinsam eine lange und zwanglose Nacht in jener Düsseldorfer Altstadtkneipe, die auch fürderhin noch eine große Rolle spielen wird. Diese Freude wird zwar geringfügig gestört, als ich meinen rundgetrunkenen Deckel einlöse, aber auch das gehört zu einem schönen Abend, den wir alle in zwei Tagen in seiner finalen Großartigkeit noch überbieten wollen.

Während der Rückfahrt sinniere ich halb vor mich hin dösend, ob das mittlerweile angesichts der ganzen Eindrucke der letzten Tage überhaupt noch möglich sei, oder ob der größte Feiertag im Leben eines Eurovisionsfans dann nur noch zu einer einzigen Enttäuschung mutieren könne.

Die Auflösung auf diese nahezu existenzielle Frage gibt es am finalen Samstag

Nachtrag: Am frühen Freitagmorgen begibt sich Frau V – zwischenzeitlich in unserer wie immer menschenleeren Heimatstadt angekommen – mit einem riesigen aufblasbaren Mikrofon unterm Arm auf den nach so vielen Altbieren äußerst beschwerlichen Fußweg nach Hause.

Foto: EBU


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